Stadtplanung

Die 15-Minuten-Stadt: in Paris gehen Sicherheit und Klimaschutz Hand in Hand

Seit 2014 krempelt Paris‘ Bürgermeisterin Anne Hidalgo die französische Hauptstadt um. In der jahrezehntelang von Autos beherrschten Stadt macht sie Platz für Radwege, Parks und Flanierzonen. Die erste Frau im Amt des Stadtoberhaupts argumentiert dabei nicht mit Klimaschutz und CO2-Bilanzen, sondern macht die Sicherheit der Pariser*innen zum Thema. Und gleichzeitig sorgt Hidalgo für kurze Wege, indem sie Paris zur 15-Minuten-Stadt umbaut, wie dieser Beitrag aus »Alles super?« zeigt.

18.07.2024

Die 15-Minuten-Stadt: in Paris gehen Sicherheit und Klimaschutz Hand in Hand | nachhaltige Stadtentwicklung Verkehrswende nachhaltige Verkehrspolitik Stadtplanung

Paris gilt auf der ganzen Welt als die »Stadt der Liebe« – aber vielleicht sollten wir lieber sagen: der Autoliebe. Denn lange Zeit war die französische Hauptstadt beinahe fahrradfrei und die Türme von Notre Dame und Sacré-Cœur in den Dunst der Abgase gehüllt. Von Romantik keine Spur, zumindest für alle, die nicht hinterm Steuer saßen. Mitte der Neunziger gab es in Paris gerade mal drei Kilometer Radwege, die sogenannten »Wege der Höflichkeit«. Weit weniger rücksichtsvoll, fast schon grob durchschnitten damals vierspurige Straßen mit schmalen Gehwegen die Stadt. Und am Seineufer bretterten die Autos fast ungebremst über die Schnellstraße – bis Anne Hidalgo ins Rathaus zog.

Paris, die Stadt der kurzen Wege

2014 wurde die Sozialistin, die in Deutschland wohl eher Sozialdemokratin wäre, Bürgermeisterin der französischen Metropole. Seitdem verfolgt sie ihren ehrgeizigen Plan – und baut Paris zur gesunden und sicheren Stadt um. In einer Welt, in der die Verbannung des Autos zu den politisch riskantesten Ideen zählt, beweist Hidalgo Mut und Durchhaltevermögen. Denn ein Jahr nach ihrem Amtsantritt beurteilte sie nur noch jeder siebte positiv.

Aufgeben? Keine Option. Sie arbeitete weiter an ihrem Versprechen, Paris zur 15-Minuten-Stadt zu machen. Alle Orte des täglichen Lebens sollen in maximal 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erreichbar sein – egal ob Kindergarten, Schule oder Büro, Supermarkt, Bio-Laden oder Apotheke, Café oder Sportplatz. Dieses Stadtmodell soll unter anderem den Autoverkehr reduzieren, den Lärmpegel senken und die Luftqualität steigern. Und obendrein bleibt den Anwohner:innen durch die kürzeren Wege mehr Zeit für nachbarschaftliche Begegnungen. Wichtig ist, dass öffentliche Räume so umgestaltet werden, dass sie zum Verweilen und zur sozialen Interaktion einladen (1).

Auf einer breiten Straße entlang des Flusses Seine in Paris laufen Menschen, fahren Fahrrad oder INline-SkatesUm ihren Traum vom kompakten Paris wahr werden zu lassen, verfünffachte sie die Radinfrastruktur auf über 1.000 Kilometer und investierte 150 Millionen Euro in die Verdopplung der Radwege. Sie sperrte ganze Straßen für den Autoverkehr, um Platz für Fußgänger*innenzonen und Boulevards zu machen, beispielsweise das 3,3 Kilometer lange Seineufer. Eine Schnellstraße, über die früher 43.000 Fahrzeuge pro Tag brausten, ist mittlerweile eine beliebte Flaniermeile mit bis zu zwei Millionen Besucher*innen pro Jahr. Bis 2020 stieg der Anteil des Radverkehrs an den täglichen Wegen auf 47 Prozent, bis 2021 kamen weitere 22 Prozent hinzu (2).

Hidalgo wurde für ihr Programm als arrogante »Chefin von Paris« beschimpft, zog Hass und Hetze auf sich – und gewann 2020 dennoch die Wiederwahl. Vom bekanntesten französischen Klimaforscher Jean Jouzel beraten, trat sie dafür an, Paris bis 2050 klimaneutral zu machen. Sie ist überzeugt davon, dass die Stadt durch steigende Temperaturen unbewohnbar werden könnte.

Und dennoch redet sie nicht von Klimaschutz und CO2-Bilanzen. Stattdessen argumentiert sie mit empfindlichen Lungen von Schulkindern, mit Asthmakranken an Autobahnen und damit, dass SUVs aufgrund ihrer Größe kleine Erstklässler*innen übersehen könnten. Nicht nur wegen dem Klima, vor allem aus Sicherheitsgründen soll die Stadt attraktiver für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen werden.

Ihre zweite Amtszeit will Hidalgo nutzen, um erneut 250 Millionen Euro in die Fahrradpolitik zu investieren, davon 180 Millionen in die Infrastruktur. Bis 2026 sollen außerdem 180 Kilometer Radwege ergänzt sowie alle Straßen im Pariser Stadtgebiet fahrradfreundlich werden. Hierzu plant sie Zweirichtungsradwege und Kreuzungen nach niederländischem Vorbild. Busse und Straßenbahnen sollen Vorrang an Ampeln erhalten, Fahrräder gleich grüne Wellen. Hinzu kommen 130.000 neue Radabstellplätze (3).

Ein Radweg in Paris, auf dem mehrere Radfahrer*innen hintereinander durch die Stadt fahren

Seit 2021 herrscht auf beinahe allen Straßen Tempo 30 für den Autoverkehr, als nächstes soll die Höchstgeschwindigkeit auf der Ringautobahn von 70 auf 50 km/h gesenkt werden. Damit will Hidalgo das Unfallrisiko reduzieren. Denn bereits 2014, als das Tempolimit von 80 auf 70 km/h angepasst wurde, sei die Zahl der Unfälle um 15 Prozent zurückgegangen (4) . Ab 2024 sollen Dieselfahrzeuge verboten sein, Verbrennungsmotoren ab 2030. Bis 2026 sollen 70.000 oberirdische Parkplätze wegfallen, das entspricht 72 Prozent aller Straßenparkplätze. Und SUVs von außerhalb zahlen ab Herbst 2024 18 Euro pro Stunde fürs Parken im Zentrum – dreimal so viel wie vorher.

Nach den Olympischen Sommerspielen 2024 sollen verkehrsberuhigte Zonen im historischen Kern (I., II., III. und IV. Arrondissement) sowie nördlich des Boulevard Saint-Germain eingeführt werden. Bis 2030 sollen über 38 Milliarden Euro in den öffentlichen Nahverkehr investiert werden, um 200 Kilometer neue U-Bahn-Strecken zu realisieren. Das Projekt »Paris atmet auf« soll fortgesetzt und Straßen weiterhin temporär für den motorisierten Verkehr gesperrt werden.

Auch die Stärkung der grün-blauen Infrastruktur ist Hidalgo wichtig: So sollen bis 2026 rund 170.000 Bäume gepflanzt und die Champs-Elysee inklusive Place de la Concorde bis 2030 zu einem grünen Boulevard werden. Und nach über 100 Jahren soll die Seine ab 2025 endlich wieder sauber genug zum Schwimmen sein.

Auch wenn Hidalgo bei ihren Plänen für die 15-Minuten-Stadt vor allem an die Sicherheit und Gesundheit der Pariser*innen denkt – mit der Eindämmung des Autoverkehrs bessert die Stadt automatisch auch ihre CO2-Bilanz auf. Daher wurde Paris für seine außergewöhnliche Führungsrolle im Klimaschutz 2021 mit dem Climate Action Award der Vereinten Nationen ausgezeichnet.

Rue aux écoles: Schulstraßen neu interpretiert

Zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit initiierte Hidalgo das Projekt Rue aux écoles, um die Sicherheit auf dem Schulweg zu erhöhen. In ganz Paris entstehen seither verkehrsberuhigte Bereiche in der Umgebung von Grundschulen und Kindergärten – Ende 2023 sind es schon über 200. Die Schulstraßen werden mit physischen Elementen für den Autoverkehr gesperrt, Rettungs- und Lieferfahrzeuge erhalten aber weiterhin Zugang. Brunnen und Bänke erhöhen die Aufenthaltsqualität, Bäume und Begrünung sorgen für Schatten und Kühlung. Die Kinder der angrenzenden Schulen werden in partizipative Workshops eingebunden und führen selbst Messungen und Interviews mit Anwohner*innen durch, um zukünftige Nutzungsideen zu beurteilen (5).

Ein mit weißer Kreise auf Asphalt aufgemaltes Hüpfekästchen-Feld. Darüber im Sprung Kinderbeine mit grauen Turnschuhen.

Rue aux enfants: Sichere Spielstraßen für Kinder

Ähnlich wie die Rues aux écoles verfolgt auch das Konzept Rue aux enfants das Ziel, Kindern eine sichere Umgebung zu bieten. 2015 vom Kollektiv Rues aux enfants, rues pour tous ausgerufen, führten Städte in ganz Frankreich temporäre Verkehrsberuhigungen und Straßensperrungen durch. Auch in Paris werden jedes Jahr im Frühling und Herbst einige Straßen zur Fußgänger*innenzone. So sollen Kinder jeden Alters den Straßenraum sicher genießen und ihre Umgebung erkunden können. Rues aux enfants entstehen vor allem in einkommensschwächeren Stadtteilen, um auch Kindern aus ärmeren Verhältnissen sichere Möglichkeiten zum Spielen zu bieten.

 

Quellen

1 https://www.c40knowledgehub.org/s/article/Why-every-city-can-benefit-from-a-15-minute-city-vision?language=en_US
2 https://taz.de/Anne-Hidalgo-und-die-Fahrradstadt-Paris/!5826592/
3 https://www.umverkehr.ch/node/1080
4 https://www.nzz.ch/international/die-pariser-ringautobahn-ist-womoeglich-bald-nur-noch-fuer-sonntagsfahrer-ld.1767449
5 https://www.klimabuendnis-karlsruhe.de/2023/11/04/rue-aux-ecoles-in-paris-sicherheit-und-umweltschutz/?doing_wp_cron=1710421205.6596889495849609375000

Mehr lesen Sie in 

Wie Superblocks unsere Städte zu besseren Orten machen

Erfunden in Barcelona, exportiert in die ganze Welt - das Verkehrskonzept und Stadtplanungstool der Superblocks findet in immer mehr Städten Anwendung. In ganz Europa verteilen Kommunen den ...   

Die Herausgeber 

urbanista ist eines der führenden Büros für Stadtentwicklung, räumliche Transformation und urbane Zukunftsstrategien mit Sitz in Zürich und Hamburg. In co-kreativen Prozessen verbinden wir Raum, Mobilität und Mensch. Wir glauben an die ...

mehr Informationen  

Weitere BeiträgeAlle anzeigen  

Bild zu Arbeit anders denken: 13 Lesetipps für die Arbeitswelt von Morgen
Literaturliste

Unsere Bücher und Zeitschriften geben einen Überblick, wie wir Arbeit zukunftsfähig und nachhaltig gestalten können.   

Bild zu One Health: Der Mensch ist nur ein Teil des Ganzen
Gesundheit

Das Konzept nimmt das Wohlergehen von Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen in den Blick, besonders im Hinblick auf Antibiotikaeinsatz und Zoonosen.   

Bild zu Open Access: Unsere 10 meistgelesenen E-Books
Download-Tipps

Von Artenvielfalt bis Klimakommunikation: Diese Open-Access-Bücher können Sie kostenlos herunterladen und direkt lesen.   

Ihr Warenkorb
Ihr Warenkorb ist leer.

Keine Versandkosten ab 40 Euro Bestellwert
(bei Lieferung innerhalb Deutschlands,
ausgenommen Zeitschriftenabos).

Für Kund*innen aus EU-Ländern verstehen sich unsere Preise inklusive der gesetzlichen Mehrwertsteuer und – außer bei digitalen Publikationen – zuzüglich Versandkosten.

Rabatt- und Gutscheincodes können im nachfolgenden Schritt eingegeben werden.