Ein Ende finden
»Zeit muss man nicht von einer Uhr ablesen, Zeit muss man leben« – davon war Karlheinz Geißler überzeugt. Der bekannte Zeitforscher widmete sein Leben und sein Werk der Zeit, ihrer Erforschung und ihrem Genuss. Nun ist er im Alter von 78 Jahren verstorben. In Erinnerung veröffentlichen wir diesen Auszug zum Thema »Zeit und (ihr) Ende« aus seinem Buch »Alles hat seine Zeit, nur ich hab keine«.
11.11.2022
Bücher haben ein Ende. Sie zählen daher zu den »alten« Medien. Zu den »neuen« Medien zählt das Internet. Es hat kein Ende. Die neuen Technologien und deren Funktionsprinzipien des »On-demand« des »Always-online« und des »Non-stop« kennen keine Anfangen und auch kein Beenden mehr, sie kennen nur mehr das Ein- und Ausschalten, das Ein- und Aussteigen.
Verlustig gehen wir dabei jener Nähe und Distanz zu ihnen, die sich in den Ritualen des Beginnens und des Beendens ihren Ausdruck verschafft. Wir entbehren jenes langen Blickes auf die Dinge und die Entwicklungen, der nach dem Anfang auch das Ende mitbekommt. Wir verlieren den Sicherheit und Stabilität verleihenden Rahmen, bei dem der Anfang und der Schluss eine Art »Rhythmus oder Reim« (Friedrich Hölderlin) bilden. Wir kultivieren die Kultur der »End-losigkeit« und ersetzen sie durch eine der »Un-schlüssigkeit« Bücher setzen dem Trend zur »Endlosigkeit« im Rahmen ihrer bescheidenen Möglichkeiten Widerstand entgegen. Sie geben den Autoren und Autorinnen die Chance, die Kunst der Abdankung am Leben zu erhalten.
Der Charme des Aufhörens besteht zu allererst in der Freiheit, nicht immer weiter machen zu müssen, »Schluss jetzt!« sagen zu können und zu dürfen. Es ist das tragische Schicksal des Steinewälzers Sisyphos, nicht aufhören zu können, und es ist das Glück des Odysseus, seine lange Irrfahrt beenden um wieder zuhause anzukommen zu können. »Wo gehen wir hin?« fragte Novalis und gab sich selbst die Antwort: »Immer nach Hause.« Wer nach Hause, bei sich selbst ankommen will, muss aufhören können. Die Chance des Aufhörens ist zugleich die Chance, sich selbst zu begegnen.
Wer aufhört, hört auf, um woanders weitermachen zu können. Wer Schluss macht entscheidet sich gegen das Weitermachen und das heißt zugleich für etwas und/oder jemand anderes. Das wiederum bewahrt uns vor Dummheit, Beschränktheit und Einsamkeit.
Um wieder anfangen zu können muss man zuvor an einem Ende angelangt sein. Wie man das macht? Am besten so geräuschlos wie Robert Walser: »Ist ein Stück ausgespielt, so begibt man sich, nicht ohne vielleicht vorher rasch noch in einer Wirtschaft ein Schinkenbrötchen gegessen zu haben, unauffällig nach Hause.« Dort angekommen, lege man sich unter einen Apfelbaum, schaue in den Himmel und übe sich in der anstrengenden Tätigkeit, der Zeit dabei zuzusehen, wie sie vergeht. Und dann? Dann lacht oder weint man über seine alltäglichen Zeitnöte, seine Zeithast und Zeitprobleme – und über jene Zeitprobleme, über die man lacht, die pflegt und genießt man weiter. Denn ganz ohne Zeitprobleme ist man tot.
Doch bevor endgültig Schluss ist, noch etwas: So interessant und lehrreich es auch immer sein mag, über Zeit zu lesen, zu diskutieren und zu forschen, das ständige Nachdenken über Zeit ist kein tragfähiges Lebenskonzept. Wer sein Leben nur mit dem Betrachten der Zeit zubringt, verpasst das Leben, verhungert und muss auf mehr als einen guten Wein verzichten. Es ist allemal besser, die Zeit und ihre qualitative Vielfalt zu entdecken und sie zu genießen, als sie zu erklären.
Wenn sich also demnächst mal wieder rechts von Ihnen eine Tür mit der Aufschrift: »Zeit leben« auftut und links eine mit der Ankündigung: »Neue Erkenntnisse über die Zeit,« entscheiden Sie sich für die rechte Tür. Dort geht’s zur rechten Zeit. Zeit muss man nicht von der Uhr ablesen, Zeit muss man vor allem leben – und am besten folgt man dabei der Empfehlung der Monty Pythons. »Always look on the bright side of life.« Wir sind nun mal auf der Welt, um die Zeit zu leben, einfach zu leben, nicht auf der Welt sind wir, um uns Gedanken darüber zu machen, wie man die Zeit nützlich und gewinnbringend hinter sich bringt. Damit man das aber hinbekommt, ist es zuweilen sinnvoll und angebracht, über sie nachzudenken und etwas über sie zu lesen.
»Lass fallen die gepflückten,
Kaum noch beschauten Blumen.
Genieß die Sonne. Danke ab,
Sei dein eigener König.«
(Fernando Pessoa)