Corona-Lehren für die Mobilitätswende: Zwangsverkehr abschaffen
Während des ersten Lockdowns haben wir erlebt, dass dezentrales und flexibleres Arbeiten im Homeoffice stressige und ressourcenbelastende Arbeitswege verringern kann. Ob die Pandemie zum Kickstart oder eher zum Todesstoß für den nötigen Wandel im Verkehrsbereich wird, hängt hauptsächlich von der Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingungen ab. Von Weert Canzler und Andreas Knie aus politische ökologie 04 - 2020.
20.01.2021
Die durch die Pandemie ausgelösten drastischen Bewegungseinschränkungen haben die Probleme der Verkehrslandschaft in Deutschland wie unter einer Lupe deutlicher als zuvor freigelegt. Sie haben gezeigt, dass das Auto das dominante Verkehrsmittel in Stadt und Land ist und bleibt.
Das Fahrrad entwickelt zwar in der Stadt eine zunehmende Bedeutung, bleibt aber insgesamt gesehen noch in der Nische. Der öffentliche Verkehr kann keine neuen Kund*innengruppen für sich gewinnen. Als eine Alternative zum privaten Auto taugt er augenblicklich nicht und ist weit davon entfernt, das Rückgrat einer Verkehrswende zu sein. Die Nutzung von Flugreisen innerhalb Deutschlands fiel im Frühjahr 2020 ins Bodenlose und auch nach der Lockerung der Beschränkungen steigen die Passagierzahlen nur sehr langsam und nur auf wenigen Strecken.
Deutlich wurde auch, dass die Vielfalt der städtischen Angebote während des Lockdowns im Frühjahr 2020 deutlich Federn lassen mussten. Die Pooling-, Car- und Bikesharing-Dienstleistungen sind hoch fragile Angebotsformen, denen stabile Geschäftsgrundlagen bislang fehlen.
Der Verkehr und die Nutzung der verschiedenen Verkehrsmittel sind oftmals Folgen von Entscheidungen, die auf anderen Gebieten getroffen werden, insbesondere wie und wo wir arbeiten und wie und wo wir wohnen. In den sozialwissenschaftlichen Deutungen über die Folgen der Pandemie gibt es dazu unterschiedliche Einschätzungen, wie nachhaltig der Lockdown das soziale Gefügte prägen wird. Sicher aber scheint, dass der Einzug des Digitalen in die Berufs- und Alltagswelt einen kräftigen Schub bekommen hat, was während des Lockdowns auch messbar war: Online-Einkäufe sind genauso drastisch in die Höhe gegangen wie die Nutzung von Videoübertragungen für private und berufliche Zwecke. Amazon und Videokonferenz-Anbieter wie Zoom waren die großen Gewinner des Lockdowns. [1]
Arbeiten zu Hause boomt
Das Arbeiten im Homeoffice scheint sich als eine Art Gegenbewegung zum täglichen Berufspendeln und zum Dienstreisewesen zu etablieren. Im Homeoffice wird wieder das zusammengeführt, was die moderne Stadtplanung getrennt hat: Wohnen und Arbeiten an einem Ort.
Schon vor der Coronakrise war das Arbeiten zu Hause auf dem Vormarsch, 13 Prozent der Beschäftigten – fast fünf Millionen Menschen – haben nach den Ergebnissen der letzten Mobilität-in-Deutschland-Befragung 2017 zumindest ab und an die Möglichkeit genutzt, zu Hause zu arbeiten. [2] Während des Lockdowns wurde die Büroarbeit nicht nur tageweise, sondern so weit wie möglich ganz nach Hause verlagert: Im April 2020 arbeitete annähernd jede*r fünfte Beschäftigte fast ausschließlich zu Hause. [3]
Je höher der Anteil von Bürojobs in einer Stadt oder Region, desto größer ist auch der Homeoffice-Anteil. Es zeigt sich aber zugleich, dass auch während der Pandemie die Hochqualifizierten im Durchschnitt erheblich mehr Kilometer zurücklegten als geringer Qualifizierte.
Die Folgen des Lockdowns wirkten sich daher je nach sozialer Lage und beruflichem Status sehr unterschiedlich aus. Während in gut dotierten Arbeitsverhältnissen das Homeoffice zum Normallfall wurde, entwickelte sich in den Berufen mit geringer Bezahlung die Kurzarbeit zur dominanten Form.
Damit gingen aus ganz unterschiedlichen Gründen – und mit sehr gravierenden Konsequenzen für das Einkommen – die Verkehrsanlässe deutlich zurück: Die einen konnten von zu Hause arbeiten und bezogen ihr Einkommen weiterhin, die anderen hätten gerne gearbeitet, durften aber nicht und blieben zu Hause.
Erste Ergebnisse aus der empirischen Sozialstrukturanalyse lassen daher vermuten, dass die Auswirkungen der Pandemie die sozialen Unterschiede in der Gesellschaft deutlich verschärft und keineswegs zu einer neuen Solidarisierungswelle beigetragen haben.
Welche Prognosen lassen sich hieraus ableiten? Vor dem Hintergrund, dass arbeitsbedingte Mobilität generell und aufwendiges Pendeln im Besonderen mit spürbaren Belastungen für die Beschäftigten verbunden sind, dürfte die Pandemie noch erheblich nachwirken. Dass sich Pendeldauer und -entfernung negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken, ist zudem vielfach belegt. [4] Die allgemeine Lebenszufriedenheit leidet, der lange Arbeitsweg wird mehr als das empfunden, was er ist: Zwangsverkehr.
Dezentrale Arbeitsstrukturen und flexiblere Arbeitsmodelle können stressige und ressourcenbelastende Arbeitswege verringern und damit auch die Nebenfolgen des motorisierten Massenverkehrs lindern. Sie stehen daher bei den Betroffenen schon länger hoch im Kurs und könnten nun ihren gesellschaftlichen Durchbruch schaffen.
Homeoffice und dezentrale Arbeitsstrukturen sind dabei auch eine Antwort auf immer stärker individualisierte Lebensformen, die auf zusätzliche Handlungsoptionen setzen. Man kann annehmen, dass mit den massenhaften Erfahrungen im Homeoffice im Zuge des Lockdowns in der Corona-Pandemie ein weiterer heftiger Individualisierungsschub eingesetzt hat. Der Wunsch nach einer orts- und zeitunabhängigen Arbeitsweise hat jedenfalls deutlich zugenommen.
Die dafür notwendigen technischen Voraussetzungen scheinen deutlich günstiger als noch vor der Pandemie angenommen. [5] Es ist daher zu vermuten, dass auch nach der Rücknahme der Beschränkungen die Unternehmen verstärkt mit der Forderung von Beschäftigten konfrontiert werden, auch weiterhin zumindest teilweise von zu Hause aus arbeiten zu wollen oder aber an einem sogenannten Dritten Platz, der weder das Zuhause noch der Arbeitsplatz ist. Vermutlich werden auch entsprechende Co-Working-Angebote deutlich mehr und intensiver genutzt werden als vor der Pandemie.
In jedem Fall haben die Auswirkungen der Pandemie Dinge in Bewegung gesetzt, von denen man früher nicht erwartet hätte, dass sie so schnell oder überhaupt möglich gewesen wären. Neue Gestaltungsspielräume taten sich praktisch über Nacht auf.
Das Übergangsparadox
Die Folgen der Pandemie sind schwer abzuschätzen, die Mobilitätslage ist überhaupt unübersichtlich. Es lässt sich als ein Übergangsparadox konstatieren: Die moderne Gesellschaft ist mental zwar deutlich weniger auf das eigene Auto fixiert als früher. Von wirklicher Begeisterung ist kaum mehr etwas zu spüren und alle Ingredienzen für eine post-automobile Welt sind längst vorhanden. Dennoch ändert sich real wenig, die Zahl der Pkw-Zulassungen steigt von Jahr zu Jahr sogar noch an. Die Macht der automobilen Strukturen liegt schlicht in ihrer baulich und rechtlich abgesicherten Existenz.
Besonders eindrücklich lässt sich dieses Paradox am Beispiel Berlin zeigen. Man freut sich in der Hauptstadt zu Recht über die ersten 25 Kilometer geschützte Fahrradspuren und über das (zeitweise) Entfernen von zwei kompletten Parkstreifen einer Hauptverkehrsstraße, während gleichzeitig die innerstädtische Autobahn A 100 auf der Grundlage von Plänen aus dem Jahr 1958 weitergebaut wird. Die politischen Mechanismen zur Popularisierung des Autos sind weiter sehr aktiv, die Spirale von Straßenbau, Autozulassung und weiteren Straßen bleibt weiter in Gang.
Die Chancen zum Wechsel bleiben zudem sehr ungleich verteilt, außerhalb der Ballungsräume gibt es eben kaum Alternativen zum Auto. Viele von denen, die täglich das Auto nutzen, sehen sich in der verkehrspolitischen Debatte daher auch als Verlierer*innen. Sie fühlen sich zu Unrecht an den moralischen Pranger gestellt. Autonutzer*innen auf dem Land, die ihren Urlaub zu Hause oder in heimischen Gefilden verbringen, haben nicht selten einen geringeren CO2-Ausstoß als Stadtbewohner*innen, die gerne Fahrrad fahren, Lastenräder nutzen, den Volvo demonstrativ in der Garage lassen, aber gerne mehrmals im Jahr mit dem Flieger durch die Welt jetten.
Es fehlt an Alternativen. Kommunalverwaltungen sind darauf programmiert, den Verkehrsfluss zu maximieren, Parkplätze bereitzustellen und den Stellplatzschlüssel zu optimieren. Sie haben, selbst wenn sie den politischen Auftrag erhalten, nicht die Macht, die Ursachen für die steigenden Zulassungszahlen zu beseitigen und entsprechende Maßnahmen zur Eindämmung durchzusetzen. Und im Wissen um diese strukturellen Beschränkungen werden Maßnahmen zur Eindämmung der Fahrzeugflut gar nicht erst begonnen.
Regeln ändern und Mut zeigen
Der Erfolg der Verkehrswende ist keine Frage von moralischen Appellen. Die Änderung der Regeln ist der entscheidende Hebel. Das Auto hat seine Privilegien ja nur deshalb erhalten, weil es ein Versprechen auf persönlichen Aufstieg, gemeinschaftliches Fortkommen und eine gesellschaftliche Prosperität verkörperte. Jahrzehntelang galt die Zahl der zugelassenen Pkws als Indikator für den Wohlstand einer Nation.
Wer in dieses seit Jahren etablierte Regelwerk eingreifen und es verändern will, muss aber je nach wahrgenommenen Alternativen und subjektiven Einsichten mit Widerstand rechnen, weil die mit dem Auto im wahrsten Sinne eingefahrenen Abläufe alternativlos erscheinen. Ein erfolgversprechender Ansatz der Verkehrswende ist es, dort zu beginnen, wo die Vielfalt der Möglichkeiten auch eine Abkehr von bestehenden Routinen erlaubt. Dies geht in großen Städten leichter als auf dem Land oder am Stadtrand.
Da die rechtliche Regulierung im Verkehr historisch auf die Förderung des privaten Autos geeicht war und bis heute immer noch ist, sind alle Vorhaben, das private Auto zurückzudrängen, potenziell illegal. Wer sich als private*r Autofahrer*in in seinem/ihrem Recht eingeschränkt fühlt, kann mit großen Erfolgsaussichten auf den Erhalt des Status quo hoffen.
Da hilft es auch nicht richtig, wenn die Diskussion um grundsätzliche Änderungen im Verkehrsrecht schon begonnen hat und wichtige Rechtsgrundlagen wie die Straßenverkehrsordnung und das Personenbeförderungsgesetz mit erweiterten Innovationsklauseln versehen werden. Kommunen brauchen vielmehr hier und heute Rechtssicherheit, wenn sie Experimente beginnen. Denn sie müssen damit rechnen, dass Bürger*innen auf dem Rechtsweg mit Erfolg den autofreundlichen Ausgangszustand wiederherstellen.
Ein Wandel ist in der bestehenden Ordnung daher nicht eingebaut. Er muss durch soziale Praktiken neu entstehen, er lässt sich erst dann als Norm einklagen. Ein langer Weg, der aber durch die Bilder der leeren und ruhigen Städte an Unterstützer*innen gewonnen haben dürfte.
Anmerkungen
1 mobicor.de/fileadmin/user_upload/infas_Mobilitätsreport_20200807.pdf
2 Nobis, C. / Kuhnimhof, T. (2018): Mobilität in Deutschland – MiD Ergebnisbericht. Studie von infas, DLR, IVT und infas 360 im Auftrag des Bundesministers für Verkehr und digitale Infrastruktur (FE-Nr. 70.904/15). Bonn, Berlin. Online: mobilitaet-in-deutschland.de
3 Möhring, K. / Naumann, E. et al. (2020): Die Mannheimer Corona-Studie: Schwerpunktbericht zur Erwerbstätigkeit in Deutschland. 20.3.-15.4.2020. 16. April 2020. Und: IZT_Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (2020): Arbeiten nach Corona. Warum Homeoffice gut fürs Klima ist, Studie im Auftrag von Greenpeace, Berlin.
4 Vgl. jüngst: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (2020): Informationen zur Raumentwicklung (IzR), Ausgabe: 1/2020: Gesundheit und Krankheit aus räumlicher Perspektive.
5 infas.de/fileadmin/user_upload/MOBICOR_Mobilitätsreport_2_202008017.pdf