Kleine Fahrzeuge, große Wirkung: Das Konzept der Feinmobilität
Die Verkehrswende steht vor einer entscheidenden Herausforderung: Der Trend zu immer größeren Fahrzeugen belastet Städte und Umwelt. Das Konzept der Feinmobilität bietet hier einen Gegenentwurf, indem sie auf kleinere, leichtere und umweltfreundlichere Fahrzeuge setzt. So können wir den Raum für eine nachhaltige Mobilität zurückzugewinnen, erklären Carsten Sommer, Jori Milbradt, Sophie Elise Kahnt und Konrad Otto-Zimmermann in diesem Auszug aus »Feinmobilität«.
23.10.2024
Feinmobilität ist Mobilität zu Fuß und mit Fortbewegungsmitteln im Spektrum zwischen Schuh und Auto. Das Konzept beruht auf der Betrachtung von Fahrzeugen und Mobilitätshilfen nach ihrer Größe auf einer Skala von »fein« bis »grob«. Feinmobilität bildet damit das Gegenkonzept zum Verkehr mit immer größer und schwerer werdenden Kraftfahrzeugen.
Den Begriff Feinmobilität hat Thomas W. Zängler bereits im Jahr 2000 verwendet und mit Mikromobilität (1) gleichgesetzt. (2) Ohne Kenntnis dieser Quelle hat Konrad Otto-Zimmermann den Begriff der Feinmobilität im Jahr 2021 entwickelt und einer Initiative zugrunde gelegt, an der Arbeitsgremien des Verkehrsclubs Deutschland e. V., der Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung e. V. sowie die Universität Kassel beteiligt waren. Sie haben die ersten fachlichen Grundlagen für dieses Werk erarbeitet. Dabei ging es um »Abrüstung im Stadtverkehr auf Verkehrsmittel mit menschlichem Maß, die Abkehr von der Gigantomanie« als wesentliche Komponente der Verkehrswende. (3)
Merkmale der Feinmobilität
Mobilität nach dem ökonomisch-ökologischen Prinzip
Feinmobilität ist Mobilität mit menschlichem Maß und entspricht dem Postulat sowohl ökonomischer als auch ökologischer Mobilität: Ortsveränderungen werden mit der kleinsten, leichtesten, feinsten, leisesten, ressourcenschonendsten, emissionsärmsten und kostengünstigsten Option im Spektrum aller Bewegungsmittel im Individualverkehr und im leichten Wirtschaftsverkehr für den jeweiligen Einsatzbereich durchgeführt.
Fußmobilität
Feinmobilität umfasst auch den Fußverkehr als Basismobilität. Der Fußverkehr bedient sich zur Fortbewegung bzw. zum Transport von Menschen, z. B. Kindern und Körperbehinderten (Rollator, Rollstuhl, Kinderwagen usw.) und Lasten (Trolley, Wagen und Karren), einer Reihe von Bewegungsmitteln, die als Fußergänzungsmittel betrachtet werden können.
Herausforderung Autowachstum
Die Größe von Pkw hat über die letzten Jahrzehnte zugenommen. Allein die Grundflächen der in Europa verkauften neuen Pkw-Fahrzeugmodelle sind zwischen den 1960er- und den 2010er-Jahren um etwa 18 % angestiegen. (4)
Abb. 1: Breitenwachstum eines Fahrzeugmodells (ohne Spiegel) (eigene Darstellung nach Herstellerangaben)
Abb. 2: Segmentverteilung nach ZFZR des KBA (Dez. 2022)
Tatsächlich ist aber gar ein dreifaches Autowachstum in Deutschland und in der EU zu beobachten:
- Viele Pkw sind von Modellreihe zu Modellreihe größer und schwerer geworden (siehe etwa Abb. 1 für das Größenwachstum des VW Golf).
- Viele Pkw-Halter steigen bei der Ersatzbeschaffung von ihren bisherigen Fahrzeugen auf größere Modelle (Crossover, SUV, Geländewagen) um. Der Anteil der SUV und Geländewagen an Neuzulassungen wächst in Deutschland seit Jahren kontinuierlich und liegt mittlerweile bei über 40 % (siehe Abb. 2). (5)
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Pkw-Bestand und Pkw-Dichte (Pkw pro 1000 Einwohner) steigen weiterhin an: Allein von 2010 bis 2022 wuchs die Pkw-Dichte in Deutschland um circa 14,5 % auf 583 Pkw pro 1000 Einwohner. (6)
Die Größenordnung des dreifachen Autowachstums lässt sich gut durch das Anwachsen der Raumnahme des deutschen Pkw-Bestands von 2017 bis 2023 verdeutlichen. Die Raumnahme ist definiert als das Volumen des Quaders um die äußersten Abmessungen aller unelastischen Bauteile eines Fahrzeugs im fahrbereiten Zustand.
Da der quantitative Bestand in Deutschland um ca. 6 % auf über 48 Millionen Pkw angestiegen ist und der Marktanteil von großen Pkw-Modellen auch bei Ersatzbeschaffungen zunimmt, ist das Volumen des Bestands jüngst innerhalb von sechs Jahren insgesamt um ca. 18,5 % bzw. 100 Millionen Kubikmeter gestiegen. Das entspricht einem Bruttoraumvolumen von etwa 10.000 Einfamilienhäusern bzw. dem Quader in Abbildung 3 mit den Maßen 2000 m x 100 m x 500 m, der die Ausmaße dieser Raumnahme in den Städten verdeutlicht. (7)
Abb. 3: Anstieg der Raumnahme neu zugelassener Pkw im Vergleich zu Gebäuden von 2017 bis 2023 (eigene Darstellung)
Mit dem Wachsen des Pkw-Bestandes in Anzahl und Größe geht ein Anwachsen von Problemen einher:
- Der Stadt- und Straßenraum wird durch immer größere Pkw für andere Nutzungen zunehmend knapper. Das vergrößerte Fahrzeugvolumen führt zu weniger Parkraum und dazu, dass Pkw markierte Parkstände überragen. Dies kann zu einer widerrechtlichen Nutzung von Geh- und Radwegen führen. Zudem stellen Pkw-Nutzende ihr Fahrzeug vermehrt im Straßenraum ab, weil es wegen seiner Größe nicht mehr in ihre Garage bzw. durch die Zufahrt passt. Pkw werden durchschnittlich 23 Stunden pro Tag geparkt. 19 % der Pkw-Besitzenden in Deutschland parken ihren privaten Wagen an ihrem Wohnort üblicherweise im öffentlichen Straßenraum. In Großstädten sind es sogar 42 %. (8)
- Hohe Pkw blockieren Sichtbeziehungen im Straßenraum (insbesondere auch für Kinder) und erhöhen damit die Unfallgefahr für den Fußverkehr und feinere Bewegungsmittel (siehe Abb. 4).
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Abb. 4: Sichtverdeckung durch Fahrzeug-Seitenprofile (eigene Darstellung)
- Das vergrößerte Fahrzeugvolumen führt zu überfüllten Straßen. Die Dimensionen vieler Pkw überragen Fahrbahnen und führen dadurch zu Verkehrsbehinderungen und Gefährdungen im Begegnungs- und Überholverkehr.
- Die Kaufentscheidung für einen großen Wagen basiert u. a. auf der Angst der Pkw-Nutzenden vor Unfallschäden bei Kollisionen. Sie suchen passiven Schutz, anstatt auf sichere Geschwindigkeitsniveaus und effektive Verhaltensüberwachung für alle zu setzen. Durch die massigen Autos werden sie dabei selbst zu einer Gefahr für andere.
- Der Fahrzeugbestand wird schwerer – mit negativen Folgen für den Ressourcenverbrauch und bei Kollisionen. Der Übergang zu batterieelektrischen Fahrzeugen führt wegen des Gewichts der Batterien zu noch höheren Fahrzeuggewichten, was durch den Wunsch nach hohen Reichweiten noch verstärkt wird.
- Gegenwärtig dünnen – vor allem deutsche – Automobilhersteller ihr Angebot an sogenannten Kleinst- und Kleinwagen aus, um vorrangig große Pkw (insbesondere SUV) zu verkaufen. Diese erbringen eine höhere Gewinnmarge. Sogenannte Kleinstwagen werden oft nur noch als Konzeptstudien auf Messen oder bei Imagekampagnen vorgestellt.
- In Deutschland ist der Verkehr ein Sektor, in dem die Treibhausgas-Emissionen (THG) drastisch sinken müssen, um die Emissionsminderungsziele zu erreichen. (9) Größere und schwerere Pkw verbrauchen nicht nur mehr Energie und Fläche, sondern auch mehr Rohstoffe – von der Herstellung über den Betrieb bis zur Entsorgung. In einer Ära, in der Ressourcenschonung und Energieeinsparung geboten sind, werden relative Effizienzgewinne in der Produktion und beim Betrieb durch die Vergrößerung der Fahrzeuge und des Pkw-Bestandes wieder zunichtegemacht (Rebound-Effekt).
- Pkw sind durchschnittlich mit 1,5 Personen besetzt. Der Besetzungsgrad hat sich über die Jahre kaum verändert. (10) Steigende Pkw-Größen stehen zu dieser gleichbleibenden, relativ geringen Auslastung im Widerspruch.
Der Trend zu immer größeren Pkw ist ungebrochen. Das bedeutet, dass sich Stadt- und Verkehrsplanung, aber auch Planung und der Bau von Gebäuden und Infrastrukturen mit einer Lebensdauer von 40 bis 60 Jahren auf erheblich größere Fahrzeuge einstellen müssten, als sie heute auf den Straßen stehen. Derzeit für den heutigen Kfz-Bestand gebaute Infrastruktur wäre schon bald nicht mehr ausreichend und könnte sich später als Fehlinvestition erweisen. Abbildung 5 zeigt die Extrapolation des Wachstums eines beispielhaften Pkw-Modells von drei zurückliegenden auf drei bevorstehende Jahrzehnte.
Abb. 5: Extrapolation des Größenwachstums einer Pkw-Modellreihe (eigene Darstellung)
Der vom Markt getriebene Anstieg der Pkw-Größen sowie der vermehrte Umstieg von Pkw auf Geländewagen und Pickups muss jedoch nicht zwingend von der Straßen- und Straßenverkehrs-Rechtssetzung sowie der Infrastrukturplanung nachvollzogen werden. Eine Abwendung von reiner Anpassungsplanung und die Hinwendung zu einer Zielplanung für leichtere, wendigere, umweltfreundlichere, klimaschonendere und raumsparendere Fahrzeuge sind nicht nur notwendig, sondern auch möglich.
Dimensionswende als Komponente der Verkehrswende
Der Übergang zu feineren Fahrzeugen ist eine wichtige Komponente der Verkehrswende. Diese erfordert eine Mobilitätswende zum Abbau erzwungener Mobilität, eine Verkehrsmittelwende mit Verlagerung vom Auto auf den Umweltverbund, eine Nutzungswende vom allein gefahrenen Privatauto zur Fahrzeug- und Fahrtenteilung, eine Antriebswende hin zu umweltschonenden, klimaneutralen Antrieben sowie die Dimensionswende hin zur Feinmobilität (siehe Abb. 6).
Inwieweit die Digitalisierung und Automatisierung von Fahrzeugen zur Verringerung von Unfallrisiken und Umweltwirkungen des Fahrzeugverkehrs führen und damit eine Komponente der Verkehrswende bilden könnten, darf als offen gelten.
Abb. 6: Dimensionswende als Komponente der Verkehrswende (eigene Darstellung)
Wichtig ist: Selbst wenn Fahrzeuge geteilt werden, elektrisch oder autonom fahren, macht es einen Unterschied, ob kleine oder große bzw. mehr oder weniger raumgreifende Fahrzeuge genutzt werden.
Anmerkungen
(1) Kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff: Konrad Otto-Zimmermann, Time to question ›micromobility‹, Online-Beilage zu
Internationales Verkehrswesen, Mai 2021
(2) Zängler, T. W. (2000), Mikroanalyse des Mobilitätsverhaltens in Alltag und Freizeit, Hrsg. IFMO Institut für Mobilitätsforschung, Springer Verlag, Berlin Heidelberg New York.
(3) Otto-Zimmermann, K. (2021), Ergibt Mikromobilität Sinn?, Internationales Verkehrswesen (73) 2/2021, S. 52 – 53.
(4) ITF (2022), Streets That Fit: Re-allocating Space for Better Cities, International Transport Forum Policy Papers, No. 100, OECD Publishing, Paris.
(5) Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) (2023), fdzoff.zfzrbt.2023.1, doi: 10.25525/kba-fdzoff.zfzrbt.2023.1.
(6) Statistisches Bundesamt (Destatis) (2023), Pkw-Dichte im Jahr 2022 erneut auf Rekordhoch [Pressemitteilung]. Wiesbaden.
(7) Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) (2023), fdzoff.zfzrbt.2023.1, doi: 10.25525/kba-fdzoff.zfzrbt.2023.1
(8) Infas, DLR, IVT und infras 360 (2018), Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI).
(9) Expertenrat für Klimafragen (2023), Prüfbericht 2023 für die Sektoren Gebäude und Verkehr. Prüfung der den Maßnahmen zugrunde liegenden Annahmen gemäß § 12 Abs. 2 Bundes-Klimaschutzgesetz. Online verfügbar unter: https://www.expertenrat-klima.de.
(10) Infas, DLR, IVT und infras 360 (2018), Mobilität in Deutschland (im Auftrag des BMVI).