Rechtsfragen

Klimaklagen und Klimaflucht: Die Rolle des Internationalen Gerichtshofs

Klimaklagen gewinnen zunehmend an Bedeutung im Kampf gegen die Klimakrise. Richtig eingesetzt, können sie Regierungen und sogar private Akteure dazu zwingen, sich an die Vereinbarungen des Pariser Abkommens zu halten. Doch die Spielräume sind noch viel größer, erklärt Rechtsanwältin Roda Verheyen in diesem Beitrag aus der politischen ökologie 172, und analysiert die Möglichkeiten, die Klagen vor dem Internationalen Gerichtshof für Klimagerechtigkeit und Klimageflüchtete bieten.

06.08.2024

Klimaklagen und Klimaflucht: Die Rolle des Internationalen Gerichtshofs | Klimagerechtigkeit Migration

Klimaklagen sind weltweit ein zunehmend erfolgreiches Mittel im Kampf gegen die Klimakrise. Sie können Staaten und Firmen zu verstärkten Maßnahmen zur Emissionsreduktion verpflichten. Beispielhaft sind die Klagen der Organisation Urgenda in den Niederlanden (2015–2019) und der Klimabeschluss des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom März 2021, bei dem auch junge Menschen vertreten wurden. Unternehmen stehen im Fokus beim Urteil des Bezirksgerichts Den Haag gegen Royal Dutch Shell (Mai 2021) und den Verfahren gegen große Unternehmen der deutschen Automobilindustrie (VW, BMW und Mercedes) sowie der Klage eines peruanischen Klägers gegen die RWE AG, um Kosten für die Folgen des Klimawandels durchzusetzen.

Diese Klagen sind auch ein Mittel, den Klimawandel als Fluchtursache zu bekämpfen. Vor diesem Hintergrund hat die Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung in ihrem 2021 vorgelegten Bericht auf Klimaklagen als Mittel zur Durchsetzung individueller Rechte hingewiesen und die Schaffung eines Fonds für Pionierklagen erwogen.

»Mit den bisherigen, freiwillig eingegangenen Verpflichtungen der Staaten wird das Ziel – ohne jeden Zweifel – nicht erreichbar sein. «

Grundlage für alle Klagen ist mittlerweile das Pariser Klimaabkommen von 2015. Der völkerrechtliche Vertrag normiert ein globales Temperaturziel – deutlich unter zwei und möglichst 1,5 Grad Celsius globale Erwärmung – und die Verpflichtung, sich als Vertragsstaat selbst Ziele zu setzen, um dieses globale Ziel zu erreichen. Es beinhaltet rechtliche Schnittpunkte zu Menschenrechten und Regelungen zur Klimaanpassung und Kosten. Mit den bisherigen, freiwillig eingegangenen Verpflichtungen der Staaten wird das Ziel – ohne jeden Zweifel – nicht erreichbar sein. Nationale Gerichte – wie das Bundesverfassungsgericht (BVG) – drängen jetzt dennoch darauf, das Paris-Abkommen umzusetzen.

Solche Klagen, vor allem gerichtet auf Klimaschutz, also die Reduktion von Treibhausgasemissionen, haben bisher nur beschränkte Auswirkung auf das konkrete Thema Klimaflucht und das weitere Themenfeld der Klimagerechtigkeit. So mussten die Niederlande nach dem Urteil in Sachen Urgenda aufgrund der Schutzwirkung der europäischen Grundrechte, bezogen auf 2020, mehr Emissionsreduktionen realisieren als politisch geplant. Das BVG erkannte die Klimafolgen zwar als menschenrechtsrelevant an, stützte sich für den Beschluss, der das damalige Klimaschutzgesetz Deutschlands als unzureichend kassierte, jedoch nicht auf die Schutzpflichten des Staates, sondern auf das Recht auf zukünftige Freiheit bei der Emission von Treibhausgasen. Gestützt auf das Grundgesetz – allgemeine Freiheitsrechte aus Artikel 2, verbunden mit der Staatszielbestimmung Umweltschutz in Artikel 20a –, bestätigte es die Notwendigkeit der Einhaltung der Vorgaben des Paris-Abkommens.

Klimaschutz als Menschenrecht

Beide Gerichte haben anerkannt, dass sich Staaten beim Klimaschutz nicht darauf zurückziehen dürfen, dass sie nur einen kleinen Teil der weltweiten Emissionen verursachen (»drop in the ocean«), sondern – bezogen auf die Realitäten eines maximalen CO2-Budgets, basierend auf dem Pariser Temperaturziel – ihren fairen Teil (»fair share«) leisten müssen. Der brasilianische oberste Gerichtshof entschied 2022, dass das Paris-Abkommen ein Menschenrechtsvertrag sei und damit alle nationalen Gesetze an ihm und den Klimazielen auszurichten seien.

Auch beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg sind mehrere Klimaklagen anhängig. Dort geht es um die Fragen: Ist Klimaschutz ein Menschenrecht auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention? Welche konkreten Schutzpflichten hat der Staat, und hat er diese Pflichten nur gegenüber seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern?

Insgesamt argumentieren die Gerichte meist noch immer mit einem notwendigen Mindestmaß an Klimaschutz und ordnen eine Verbesserung des Status quo an, ohne genaue Budgets oder Reduktionspfade langfristig vorzugeben. Global gesehen, ist das unzureichend, aber im Gewaltenteilungsgrundsatz begründet. Richtersprüche zu staatlichen Pflichten bei Kosten und der Durchführung von Anpassungsmaßnahmen oder zur Schadensbeseitigung fehlen zudem völlig.

»Der größere CO2-Fußabdruck Deutschlands und die Frage, ob es gerecht ist, trotz der extremen historischen Verantwortung Deutschlands an der Klimakrise die noch vorhandenen Freiräume weltweit pro Kopf zu verteilen, blieben bei der gerichtlichen Entscheidung außer Betracht. «

Ein Beispiel: Deutschland ist für jährlich knapp zwei Prozent der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich und muss sich, so das BVG, nachvollziehbar auf Treibhausgasneutralität ausrichten. Schlüssig sei dabei, das noch anzunehmende CO2-Budget global nach Pro-Kopf-Maßstäben zu verteilen. Der größere CO2-Fußabdruck Deutschlands und die Frage, ob es gerecht ist, trotz der extremen historischen Verantwortung Deutschlands an der Klimakrise die noch vorhandenen Freiräume weltweit pro Kopf zu verteilen, blieben bei der gerichtlichen Entscheidung außer Betracht.

Ebenfalls außer Betracht blieben in dieser Entscheidung, wie auch bei den anderen Entscheidungen in den Fällen, bei denen es um staatliches Handeln geht, die konkreten Pflichten global agierender privater Emittenten. Grundlegend richtig fasst der Rechtswissenschaftler Gerd Winter das Verhältnis Privater in der Klimakrise zusammen: »Treibhausgasemissionen verlaufen ›horizontal‹, sie gehen von Privaten aus und betreffen Private; der regulierende Staat ist kein Verursacher, seine Regulierung schützt die Betroffenen, legt ihnen aber keine Duldungspflicht auf.« Die Frage, die Zivilgerichte nun also beschäftigt, lautet: Kann ein privater einen anderen privaten Akteur verklagen, wenn ihn die Folgen des Klimawandels treffen? Oder muss er diese Folgen – im Fall des peruanischen Klägers eine möglicherweise tödliche Gletscherflut – hinnehmen, also dulden?

Zivilrechtliche Klagen können also vielleicht (jedenfalls gegenüber einzelnen Unternehmen und für einzelne Betroffene) Schadensverhinderung und -ausgleich erreichen. Sie müssen auch nicht an staatlichen Grenzen haltmachen – globalisierte Wirtschaft geht schließlich mit Emissionen in verschiedenen Ländern einher. Vielleicht kann, neben den andauernden Verhandlungen zu Verlusten und Schäden (»Loss and Damage«), auf der Ebene der Klimarahmenkonvention durch erfolgreiche Urteile erreicht werden, dass Unternehmen und Staaten freiwillig einen Fonds für Betroffene füllen.

Aber Urteile, die die größeren Fragen entscheiden, sind bisher ausgeblieben. Das wäre die Frage nach der gerechten Verteilung verbleibender Emissionsrechte innerhalb des Paris-konformen Budgets (»fair share«), die Frage der Regulierungsverpflichtung gegenüber Privaten, die Frage der Verteilung von Kosten des Klimawandels und der Anpassung sowie die Frage der Verantwortung für die Unbewohnbarkeit ganzer Landstriche und Inseln.

Internationalen Gerichtshof für Klimagerechtigkeit nutzen

Seit Jahrzehnten wird die Forderung vertreten, einen Weltgerichtshof für Umweltfragen einzurichten. Aber bis dahin ist es noch ein langer und steiniger Weg. Es müsste ein völkerrechtlicher Vertrag verhandelt und abgeschlossen werden, das Mandat geklärt und der Gerichtshof ausgestattet werden, und nicht zuletzt müssten Staaten seine Zuständigkeit anerkennen. Um globales Handeln zu stärken und einige der benannten wichtigen Fragen zu klären, kann und sollte deshalb aus unserer Sicht sofort der bestehende Internationale Gerichtshof (IGH) angerufen werden. Der IGH entscheidet aufgrund seines Statuts entweder Fälle im Konfliktfall zwischen Staaten oder er gibt Rechtsgutachten (»Advisory Opinion«) ab.

Bis heute ist der IGH im Hinblick auf den Klimawandel oder die Auslegung von Völkerrecht nicht tätig geworden – und das, obwohl die Klimakrise in all ihren Facetten grundlegende globale Fragen des Rechts, auch die Auslegung von Völkerrecht, betrifft. Was genau heißt denn das als völkerrechtliches Gewohnheitsrecht akzeptierte »No-harm-Prinzip« (kein Staat soll dem anderen durch Tätigkeiten auf seinem Territorium Schaden zufügen) im Klimakontext? Was passiert, wenn mit dem Anstieg des Meeresspiegels ganze Staaten verschwinden, wie die kleinen Inselstaaten im Südpazifik?

»Bis heute ist der IGH im Hinblick auf den Klimawandel oder die Auslegung von Völkerrecht nicht tätig geworden – und das, obwohl die Klimakrise in all ihren Facetten grundlegende globale Fragen des Rechts, auch die Auslegung von Völkerrecht, betrifft. «

Der IGH hat schon mehrere umweltpolitisch umstrittene Fälle verhandelt und so das jeweilige Rechtsgebiet weiterentwickelt – eine Rolle, die ihm auch bezüglich der Klimakrise zustehen kann. Als Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen (UN) genießt der Gerichtshof eine hohe moralische Autorität und hat die Möglichkeit, umfassende Fragen zur Klimakrise direkt durch ein Rechtsgutachten anzugehen. Dieses kann sowohl eine einfache Mehrheit der Generalversammlung oder eine UN-Sonderorganisation (beispielsweise das Flüchtlingskommissariat UNHCR oder die Welternährungsorganisation FAO) zu Rechtsfragen aus dem jeweiligen Zuständigkeitsgebiet anfordern. Das Rechtsgutachten ist zwar im Gegensatz zu Urteilen nicht rechtsverbindlich, kann aber trotzdem durchaus staatliche Maßnahmen rechtfertigen, weil Staaten dann davon ausgehen, dass das bestehende Völkerrecht auch bei einem streitigen Fall zwischen Staaten entsprechend ausgelegt würde. Ein solches Rechtsgutachten könnte auch die Verhandlungen um »Loss and Damage« im Klimaregime beeinflussen. Denn obwohl bei der letzten Vertragsstaatenkonferenz in Ägypten hier ein wichtiger Schritt gemacht wurde, sind viele Fragen weiterhin offen.

Im Gegensatz zu einer streitigen Klage können bei einem Rechtsgutachten alle gestellten Fragen auf übergeordneter Ebene behandelt und somit Grundsätze entwickelt werden, die sich auf viele einzelne Fälle anwenden lassen. Es geht dort nicht darum zu beweisen, dass ein Mensch durch eine bestimmte Klimafolge in seinen Rechten betroffen ist, es geht also nicht um die enge Kausalität, sondern Klimagerechtigkeitsthemen können hier nach dem Maßstab der völker

rechtlichen Verträge und des Völkergewohnheitsrechts adressiert werden. Anders als etwa ein nationales Verfassungsgericht ist der IGH aufgrund seiner allgemeinen internationalen Zuständigkeit jedenfalls im Ansatz in der Position, alle Fragen zu den völkerrechtlichen Regeln des Klimaschutzes zu bewerten und die Verpflichtungen der Staaten klarstellend zu formulieren.

Konkrete Verpflichtungen fehlen

Eine aktuelle Kampagne für ein Rechtsgutachten des IGH zur Klimagerechtigkeit organisiert die World’s Youth for Climate Justice (WYCJ), die 2019 von einer Gruppe pazifischer Studierender gegründet wurde. Die jungen Menschen fordern eine Formulierung für eine Gutachtenfrage an den IGH, die die Verbindung von Menschenrechten und der Klimakrise in den Fokus stellt. Sie wollen, dass der IGH sowohl die Rechte heutiger und künftiger Generationen angesichts der Krise klärt als auch die damit verbundenen staatlichen Verpflichtungen.

Obwohl das Bundesverfassungsgericht und der brasilianische Gerichtshof anerkennen, dass Klima- und Menschenrechtsschutz untrennbar verbunden sind, wurden international bisher daraus keine konkreten Verpflichtungen einzelner Staaten abgeleitet. Das Paris-Abkommen setzt zwar ein verbindliches Temperaturziel, aber ansonsten setzt es auf freiwillige Verpflichtungen seiner Vertragspartner, wie dies zu erreichen ist. Ziel eines Rechtsgutachtens sollte sein, staatliche Klimaschutzanstrengungen und Anpassungsmaßnahmen als Schutz der Menschenrechte zu definieren und festzulegen. Eine progressive Interpretation der staatlichen Verpflichtungen (Stichwort »fair share«) könnte insgesamt den Klimaschutz voranbringen. Die Initiative wird unterstützt beispielsweise von Mary Robinson, vormals UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Der Inselstaat Vanuatu setzt sich aktuell für eine entsprechende Resolution der UN-Hauptversammlung ein.

»Auch zu der Frage, welche Rechtspositionen bei Flucht und Migration die Klimakrise betreffen und welche Pflichten diesbezüglich entstehen, könnte der IGH nützliche Schritte gehen«

Auch zu der Frage, welche Rechtspositionen bei Flucht und Migration die Klimakrise betreffen und welche Pflichten diesbezüglich entstehen, könnte der IGH nützliche Schritte gehen, denn auch die Mindeststandards zum Schutz von Flüchtenden werden durch internationale Menschenrechtsvereinbarungen festgelegt. Sie bieten eine Grundlage, um zu beurteilen, welche Rechte (Recht auf Leben, Gesundheit, Wohnung, etc.) durch die Klimakrise beeinträchtigt werden, und damit auch einen relevanten Anhaltspunkt für den Rechtsstatus der Fliehenden und den entsprechenden Umgang der Staaten mit Migrant*innen.

Welchen rechtlichen Stellenwert Klimafolgen haben, kann durch eine detailliertere Erörterung des Zusammenhangs von Menschenrechtsverletzungen und der Klimakrise durch den IGH auch mit Wirkung für konkrete Verpflichtungen von Staaten geklärt werden – zum Nutzen aller besonders durch den Klimawandel Betroffenen. Nach Aussagen des Weltklimarates sind das bis zu 3,6 Milliarden Menschen.

Nationale Klimaklagen sind ein Ausgangspunkt zur Verdeutlichung der menschenrechtsrelevanten Eingriffe in Rechtspositionen weltweit. Aber sie können aufgrund der Verankerung auf nationaler Ebene nicht weit genug zur rechtlichen Klärung der Verantwortung von Staaten beitragen. Dem IGH sollte ermöglicht werden, im Rahmen einer Advisory Opinion Stellung zu beziehen. Aus unserer Sicht würde das eine Lücke füllen und gleichzeitig Material liefern, mit dem sich Menschen wiederum an ihre – hoffentlich durchsetzungsstarken – nationalen Gerichte wenden können, um effektiven Klimaschutz und Schutz vor den Folgen des Klimawandels und der Verschärfung von Fluchtursachen einzufordern.

 

Anmerkung

Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Lou Töllner, Bucerius Law School, Hamburg. Er stellt eine gekürzte Fassung des gleichnamigen Artikels dar, der in dem Buch »Flucht« veröffentlicht wurde.

Dieser Beitrag stammt aus 

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