Migration: Zivilgesellschaft an der Kette
Wenn die Arbeit von Menschenrechtsverteidiger*innen verhindert wird, leiden vor allem jene, die dringend auf ihre Unterstützung angewiesen sind: Menschen auf der Flucht. Ihnen werden grundlegende Rechte vorenthalten. Ein Beitrag aus »Atlas der Zivilgesellschaft 2023: Gefährlicher Beistand«.
27.04.2023
260 Kilometer, weiter ist es nicht von Zarzis im Süden Tunesiens bis nach Lampedusa. Aber die 18 Menschen, die am 21. September 2022 hier ein Boot bestiegen, um nach Italien zu gelangen, kamen nie an. Ihr Schiff sank, sie ertranken alle. Keiner war älter als 25 Jahre, das jüngste Opfer war ein 14 Monate altes Baby.
Bereits am 23. September hatten Angehörige die Küstenwachen von Tunesien, Italien und Malta um Hilfe gebeten. Doch die Küstenwachen unternahmen nichts, um das vermisste Boot zu finden. Die Sea Watch 3 der gleichnamigen deutschen NGO hätte die Suche aufnehmen können.
Doch just an jenem 23. September hatten die italienischen Behörden das Rettungsschiff in Reggio Calabria in Süditalien festgesetzt, weil es zuvor 427 Menschen an Land gebracht hatte. Zu viele, argumentierten die Behörden: Diese Zahl Geretteter sei »eine Gefahr für Personen, Eigentum oder die Umwelt«, so der Inspektionsbericht.
Die Sea Watch 3 durfte nicht wieder auslaufen, monatelang. Dabei hatte der Europäische Gerichtshof erst im August 2022 entschieden, dass Behörden Schiffe humanitärer Organisationen nur noch kontrollieren dürfen, wenn sie „konkret und detailliert nachweisen, dass belastbare Anhaltspunkte für eine Gefahr vorliegen.“
Von jenem Tag bis zum Ende des Jahres verzeichnete die UN-Migrationsorganisation IOM im zentralen Mittelmeer 276 Tote. Das sind zwei Menschenleben pro Tag.
Perfide Agentengesetze
Etwa 40 Schiffe haben private NGOs seit 2014 zur Seenotrettung ins Mittelmeer entsandt ‒ eine Mobilisierungsleistung der Zivilgesellschaft. Ohne sie wären wohl weit mehr als die seither rund 26.000 Menschen ertrunken.
Doch Versuche der Behörden, die »zivile Flotte« zu blockieren, sind so alt, wie sie selbst: Nach Rettungseinsätzen wird ihnen oft wochenlang die Einfahrt in einen Hafen verweigert. Sie werden unter fadenscheinigen Begründungen ‒ meist wegen angeblicher technischer Mängel ‒ festgesetzt, so wie die Sea Watch 3. Schiffe werden beschlagnahmt, Crews in Gewahrsam genommen oder mit Gerichtsverfahren überzogen.
Einer Recherche von Brot für die Welt zufolge waren die seit 2016 von NGOs ins Mittelmeer geschickten Rettungsschiffe 1.116 Wochen blockiert ‒ 32 Prozent der möglichen Einsatzwochen auf See (siehe Grafik). In der übrigen Zeit wurden sie blockiert. Die Blockade der Seenotrettung ist heute eine der öffentlich sichtbarsten Strategien, zivilgesellschaftliches Engagement zu erschweren, um die Migration selbst einzudämmen.
Das Kalkül: Wenn weniger gerettet wird, kommen irgendwann auch weniger Flüchtlinge. Belege gibt es für diese zutiefst unmoralische Haltung indes keine.
Die NGO Borderline Europe dokumentiert die Attacken seit Jahren. »Einzelpersonen und Organisationen, die sich für die Rechte und die Würde von Menschen auf der Flucht einsetzen, werden von staatlichen Behörden systematisch diffamiert, schikaniert und verfolgt«, schreibt Borderline. Die Soziologen Elias Steinhilper und Donatella della Porta finden, beim Thema Migration sei »Shrinking Space für die Zivilgesellschaft am sichtbarsten«. Im Zuge einer Kriminalisierung der Unterstützung von Geflüchteten und Migrant*innen hätten viele Staaten den Terrorismusbegriff ausgeweitet, neue Gesetze gegen angebliche Aufwiegelung und neue Geheimhaltungsvorschriften erlassen oder auch das Spendensammeln für Organisationen erschwert.
Als ein perfides Instrument haben sich die »Agentengesetze« erwiesen, deren Zahl weltweit in den letzten 20 Jahren enorm gewachsen ist. NGOs ‒ vor allem solche, die Geld von Partnern aus dem Ausland bekommen ‒ werden durch diese Gesetze unter Spionageverdacht gestellt. So werden kritische Stimmen gegängelt und Kontroll- und Informationsaktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen ausgeschaltet.
Die UN-Sonderberichterstatterin für die Lage von Menschenrechtsverteidiger*innen, Mary Lawlor, sieht auch die Vorwürfe angeblicher Geldwäsche oder Terrorismusbekämpfung bei den Einschränkungen der ausländischen Finanzierung von NGOs als vorgeschoben. »Die wahre Absicht der Regierungen ist es, die Menschenrechtsorganisationen in ihrer legitimen Arbeit einzuschränken.«
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Diese Politik ist dabei so international, wie die globale Migration selbst. In Myanmar etwa erschossen Extremisten 2021 Mohammed Mohib Ullah, einen Menschenrechtsverteidiger, der sich für muslimische Rohingya-Flüchtlinge eingesetzt hatte. In der Türkei nahm die Polizei im Juni 2022 rund zwei Dutzend Mitarbeiter*innen der Migration Monitoring Association wegen angeblicher »Mitgliedschaft in einer bewaffneten Organisation« fest. In Thailand verurteilte ein Gericht Andy Hall, einen Mitarbeiter des Migrant Worker Rights Networks, zu zunächst vier Jahren Haft. Ein staatlicher Agrarkonzern hatte ihn angezeigt, weil er einen Beitrag über dessen Umgang mit Migrant*innen verfasst hatte. Das Verfahren, an dessen Ende ein Freispruch stand, zog sich von 2013 bis 2020 hin. Und auf den Philippinen wurde Migrante International, eine Organisation, die sich für philippinische Arbeitsmigrant*innen einsetzt, Opfer des so genannten »red-tagging«: sie wurden als angeblich kommunistische oder terroristische Organisation diffamiert. Allen Fällen gemein ist, dass Sicherheits- und andere Gesetze missbraucht wurden.
Schwammige Formulierungen
Um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, wird diesen oft Desinformation vorgeworfen. Als etwa die NGO Human Rights Watch (HRW) am 18. November 2022 einen Bericht über die Zurückschiebung Hunderttausender Afghan*innen aus der Türkei veröffentlichen wollte, bekam HRW-Mitarbeiter Bill Frelick noch in der Nacht zuvor eine SMS von der Leitung der türkischen Präsidialbehörde für Immigration. HRW solle die Veröffentlichung verschieben, um der Türkei mehr Zeit für eine Stellungnahme zu geben, forderte diese. Dabei hatte HRW schon Wochen zuvor um eine Stellungnahme gebeten.
Hätte Frelick sich auf die Verschiebung eingelassen, wäre sein Bericht erschienen, just nachdem das neue türkische Desinformationsgesetz in Kraft trat. Dessen Artikel 29 richtet sich gegen falsche Informationen, die geeignet seien, den »inneren Frieden der Türkei« zu stören ‒ eine schwammige Formulierung, die weit auslegbar ist. Und wer gegen die neue Vorschrift verstößt, kann nun drei Jahre ins Gefängnis kommen.