One Health: Der Mensch ist nur ein Teil des Ganzen
Das Konzept »One Health« nimmt das Wohlergehen von Mensch, Tier und Umwelt gleichermaßen in den Blick. Nicht nur Pandemien wie Corona zeigen, wie wichtig ein solcher Ansatz ist. Zu seiner Umsetzung kann jeder auf dem eigenen Teller beitragen, erklärt Hendrik Lasch in diesem Beitrag aus dem Slow Food Magazin 05-2024.
24.10.2024
Rupert Ebner betreut gemeinsam mit Freunden eine rund 50-köpfige Herde Murnau-Werdenfelser Rinder: eine alte, in Oberbayern gebürtige Rasse, die zu den Passagieren der Arche des Geschmacks von Slow Food gehört und über eine robuste Gesundheit verfügt. Die Mutterkühe hätten in anderthalb Jahrzehnten etwa 500 Kälber zur Welt gebracht, sagt Ebner, der nicht nur neuer Vorsitzender von Slow Food Deutschland ist, sondern auch immer noch als Tierarzt in der Region Ingolstadt praktiziert. Antibiotika habe er in all den Jahren nur zweimal einsetzen müssen: »Bei Nabelentzündungen ist das geboten.« Ansonsten sorgten ein stabiles Immunsystem sowie eine gute Haltung und Fütterung der Tiere dafür, dass auf diese Art von Medikamenten verzichtet werden kann.
»Unter dem Begriff One Health versuchen Expert*innen seit rund 20 Jahren, Gesundheit und Wohlergehen von Mensch und Tier sowie den Zustand der Umwelt gemeinsam in den Blick zu nehmen.«
Die Herde verkörpert damit gewissermaßen den Anspruch von »One Health« (sinngemäß etwa: die eine, umfassende Gesundheit). Unter diesem Begriff versuchen Expert*innen seit rund 20 Jahren, Gesundheit und Wohlergehen von Mensch und Tier sowie den Zustand der Umwelt gemeinsam in den Blick zu nehmen. Schon 1964 hatte der US-amerikanische Tierarzt Calvin Schwabe in einem Lehrbuch die Beziehungen von »Veterinary Medicine and Human Health«, also Veterinärmedizin und menschlicher Gesundheit, dargelegt. 2004 veröffentlichte die in New York ansässige Wildlife Conservation Society zwölf »Manhattan Principles«, die als Grundlage für das Konzept One Health gelten. Der Mensch wird darin mit seiner Gesundheit als Teil des Tierreichs gesehen. Wichtige Themen sind ansteckende Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen – und der Einsatz von Antibiotika.
Antibiotika in der Tierhaltung – Ein gefährlicher Trend
Als Rupert Ebner vor vier Jahrzehnten zum Tierarzt ausgebildet wurde, traten diese medizinischen Wirkstoffe gerade einen Siegeszug in deutschen Ställen an. Bei Menschen hatten Antibiotika seit den 1940er Jahren geholfen, einer Vielzahl von bakteriell verursachten, zuvor oft tödlich verlaufenden Infektionskrankheiten den Schrecken zu nehmen. Ihr erster bekannter Vertreter war das 1928 von dem britischen Bakteriologen Alexander Fleming entdeckte Penicillin. Nun wurden die mittlerweile sehr preiswerten Antibiotika auch in der Tierhaltung in großem Stil eingesetzt: zur Therapie, aber auch als Wachstumsförderer. »Das galt damals als fortschrittlich«, sagt Ebner.
Heute ist klar, dass dieser Weg absehbar ins Verderben führt. In seinem Buch »Pillen vor die Säue«, das Ebner 2021 gemeinsam mit Eva Rosenkranz veröffentlichte, warnt er vor der drohenden »größten Gesundheitskrise« und einem »post-antibiotischen Zeitalter«, in dem Menschen wieder an banalen Entzündungen sterben und viele der heutigen Routineoperationen nicht mehr durchgeführt werden könnten: »Wir bewegen uns in eine mittelalterliche Zukunft.« Grund dafür ist, dass immer mehr Krankheitserreger immer schneller gegen Antibiotika resistent werden.
»In den Ställen würden »Killerkeime« gezüchtet, die, so warnen Experten, schon bald Millionen Menschen das Leben kosten dürften.«
Wesentlicher Auslöser ist neben unsachgemäßer Anwendung bei Menschen der flächendeckende Einsatz von Antibiotika in der industriellen Massentierhaltung, wo nicht einzelne kranke Tiere, sondern prophylaktisch ganze Bestände behandelt werden. Das erleichtert es Keimen enorm, Abwehrmechanismen zu entwickeln. In den Ställen würden »Killerkeime« gezüchtet, die, so warnen Experten, schon bald Millionen Menschen das Leben kosten dürften.
Warnungen gibt es seit geraumer Zeit. Vor 20 Jahren, also etwa zur gleichen Zeit, als in New York der »One Health«-Gedanke entwickelt wurde, mahnten deutsche Krankenkassen mit Verweis auf zunehmende Resistenzen zu vorsichtigerem Einsatz von Antibiotika in Human- und Tiermedizin. Seit 2010 ist es verboten, die Wirkstoffe zur Tiermast einzusetzen, »was aber durch etliche Hintertüren umgangen wird«, sagt Ebner.
Tipp: Mehr dazu lesen Sie in unserem Beitrag »Antibiotika in der Massentierhaltung: Was sagt die Statistik (wirklich)?«
Mittlerweile beschäftigt das Thema Antibiotika und Resistenzen die G7-Gruppe der größten Industrienationen und die UN-Generalversammlung, die zu entschlossenem Handeln aufruft. Durchgreifende Erfolge lassen indes auf sich warten.
Als Greenpeace 2017 auf deutschen Feldern ausgebrachte Schweinegülle untersuchen ließ, wurden in 79 Prozent der Proben Wirkstoffe von Antibiotika nachgewiesen. Im selben Jahr hätten Forschende erstmals ein Bakterium entdeckt, das »gegen alles resistent war«, schreibt Ebner, und kommt zu dem Schluss: »Der Countdown läuft.«
Zoonosen: Gefahr für Mensch und Tier
Gefahren lauern freilich nicht nur, weil Tiere und Menschen die gleichen Medikamente verabreicht bekommen, um Bakterien im Zaum zu halten. Heikel sind auch gemeinsame Krankheiten, deren Erreger – Viren, Bakterien, Pilze und andere – zwischen ihnen überspringen. Im Juli 2022 wurden aus diesem Grund in der bayrischen Gemeinde Maithenbeth knapp 700 Einwohner*innen untersucht – sowie 157 Spitzmäuse, darunter 16 Feldspitzmäuse. Letztere sind Überträger einer von einem Virus ausgelösten Infektion namens Bornasche Krankheit, die zu schweren Gehirnentzündungen führt und fast immer tödlich verläuft.
Lange wurde davon ausgegangen, dass nur Tiere wie Pferde und Schafe befallen werden. Seit 2018 ist klar, dass sie auch beim Menschen auftritt. Weil sie aber als höchst selten gilt, wurden Fachleute hellhörig, als in Maithenbeth binnen drei Jahren zwei Fälle auftraten.
Die großangelegte Studie sollte herausfinden, ob weitere Menschen womöglich unerkannt erkrankt waren, wozu Nasenabstriche und Blutproben untersucht wurden. Zudem sollte geklärt werden, wie verbreitet der Erreger in der Maithenbether Mäusepopulation ist. Forschende des Fritz-Löffler-Instituts für Tiergesundheit nahmen tote Feldmäuse und Erde aus Mauselöchern unter die Lupe. Die Studie gilt seither als Paradebeispiel für ein Vorgehen, das sich an den Prinzipien von One Health orientiert.
»In der Fachwelt brachte der One-Health-Ansatz ein verstärktes interdisziplinäres Interesse an Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die Tiere wie Menschen befallen und zwischen diesen überspringen.«
Kooperationen von Human- und Veterinärmedizinern und Expert*innen weiterer Disziplinen dürfte es künftig immer öfter geben. In der Fachwelt brachte der One-Health-Ansatz ein verstärktes interdisziplinäres Interesse an Zoonosen, also Infektionskrankheiten, die Tiere wie Menschen befallen und zwischen diesen überspringen. Mit Corona ist das Thema in der breiten Öffentlichkeit angekommen. »Spätestens jetzt ist es kein Nischenphänomen mehr«, sagt Ebner. Beim Erreger von Covid-19 wird davon ausgegangen, dass er in Fledermäusen kursierte, bevor auch Menschen infiziert wurden.
Ähnliche Fälle gibt es zuhauf. Zwei Drittel der bekannten Infektionskrankheiten des Menschen stammten ursprünglich von Tieren, heißt es in einer Publikation des Umweltbundesamtes zum Thema One Health. Viele können Epidemien auslösen. Wegen einer rasanten Zunahme von Erkrankungen, die eine neue Variante des von Nagetieren auf Menschen überspringenden Mpox-Virus auslöst, rief die Weltgesundheitsorganisation WHO im August dieses Jahres eine weltweite Notlage aus. Gleichzeitig beobachten Fachleute mit Sorge, wie sich das Vogelgrippe-Virus in den USA in Kuhställen ausbreitet – und in einigen Fällen auch schon auf Menschen übersprang.
Bei all diesen Krankheiten geht es freilich um mehr als um Erreger, die von Tieren auf Menschen übergehen. Es geht auch um die Frage, welche Gelegenheiten sie dazu erhalten. Menschen drängten »zunehmend in unberührte Gebiete vor« und schüfen durch veränderte Landnutzung und Zerstörung von Lebensräumen »neue Möglichkeiten für die Verbreitung von Krankheitserregern«, schreiben Wissenschaftler*innen des Umweltbundesamtes und des Bundesinstituts für Risikobewertung in einem 2023 erschienenen Themenheft des Bundesgesundheitsblatts zu One Health. Weltweiter Reiseverkehr und globaler Handel sorgen dafür, dass sich diese dann in rasantem Tempo ausbreiten.
»Ein bisschen wie Weltfrieden«: Die Umsetzung des One-Health-Konzepts
Der One-Health-Ansatz, der mit seinem zuletzt verstärkten Blick auf den Zustand von Ökosystemen zunehmende Schnittmengen mit dem Konzept von »Planetary Health« aufweist, soll helfen, solche Probleme fachübergreifend und systematisch anzugehen. Man wolle »optimale Ergebnisse für Gesundheit und Wohlbefinden erzielen unter Berücksichtigung der Zusammenhänge zwischen Menschen, Tieren, Pflanzen und ihrer gemeinsamen Umwelt«, formulierte im Jahr 2020 die »One Health Commission« – eines von mittlerweile zahlreichen Gremien und Institutionen, die sich dem Thema widmen.
2021 gründete sich ein weltweites »One Health High-Level Expert Panel« aus 26 internationalen Expert*innen. 2022 wurde ein »One Health Joint Plan of Action« vorgelegt, hinter dem die Weltorganisation für Tiergesundheit, die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, das UN-Umweltprogramm sowie die WHO stehen. Auch in der EU und der Bundespolitik ist der Begriff inzwischen in aller Munde. Breite Aufmerksamkeit soll dem Thema ein internationaler One Health Day verschaffen, der jährlich am 3. November stattfindet.
»Es klingt gut, keiner hat was dagegen, aber der Weg dahin ist komplex.«
In welchem Maße aus all dem auch praktische Schritte folgen, bleibt abzuwarten. One Health sei »ein bisschen wie Weltfrieden«, stichelte der prominente Mediziner und Wissenschaftsjournalist Eckart von Hirschhausen beim Weltgesundheitsgipfel: »Es klingt gut, keiner hat was dagegen, aber der Weg dahin ist komplex.« Rupert Ebner nimmt bisher viele »Sonntagsreden« wahr, aber eine eher halbherzige Umsetzung der hehren Worte: »Das ist wie mit den Pfarrern und der Keuschheit.« Wenn etwa bei Antibiotika von Human- und Veterinärmediziner*innen praktische Konsequenzen verlangt seien, »zeigt jeder zuerst auf den anderen«.
Ebner sieht seine eigene Disziplin viel stärker in der Pflicht. Antibiotika dürften nur verabreicht werden, wenn das »medizinisch auch wirklich angezeigt« sei, was Behörden auch kontrollieren sollten. Er fügt an, eine industrielle Tierhaltung sei unter solchen Vorgaben nicht aufrecht zu erhalten: »Ohne massenhaften Einsatz von Antibiotika funktioniert sie nicht«.
Jenseits internationaler Gremien und wissenschaftlicher Debatten kann freilich auch jede und jeder Einzelne zur Umsetzung der One-Health-Idee beitragen – etwa durch die Art der Ernährung. Es gehe, betont Ebner, um »Lebensmittel, für deren Produktion nicht der Planet zerstört wird und Tiere nicht leiden müssen«. Und um eine Ernährung, die zu einem Großteil aus pflanzlichen Zutaten besteht, die aus einem umweltschonenden Anbau stammen. Und nur zu einem deutlich kleineren Teil Fleisch und tierische Produkte einbezieht – von gut gehaltenen Viechern. So wie die Murnau-Werdenfelser Rinder, die nach einem Leben auf oberbayrischen Weiden geschlachtet werden, ohne dass sie je mit Antibiotika gepäppelt oder geheilt werden mussten.