Neues Leben im Wattenmeer: Warum die Artenvielfalt an der Nordseeküste zunimmt
Bleiben aus Übersee eingeschleppte Algen und Meerestiere für immer ein Übel oder stärken sie sogar das Ökosystem gegen fortschreitende Klimaerwärmung und steigenden Meeresspiegel? Das diskutieren Karsten Reise und Dagmar Lackschewitz in ihrem Beitrag aus der Nationalpark 02-2023.
10.06.2023
Die biologische Vielfalt nimmt weltweit ab. Im Wattenmeer aber nimmt sie zu. Warum? Als weltweit größtes Wattgebiet aus Sand und Schlick, mit Nahrungsgründen für über zehn Millionen Küstenvögel, genießt das Wattenmeer höchsten Schutzstatus. Die Bundesländer Niedersachsen, Hamburg und Schleswig-Holstein haben ihre Abschnitte zum Nationalpark erklärt und zusammen mit den niederländischen und dänischen Anteilen wurde das Wattenmeer zum Weltnaturerbe erklärt. Unberührt davon aber verschlägt es mit dem weltweiten Schiffsverkehr immer mehr Meeresorganismen quer über alle Ozeane zur europäischen Atlantikküste und von da ins Wattenmeer.
Das begann schon mit den Wikingern, die aus Nordamerika Sandklaffmuscheln mitbrachten. Seit dem letzten Jahrhundert wurden Hochseeschiffe nicht nur schneller und größer, sondern vor allem mehr. Damit wurden im Bewuchs von Schiffswänden und im Tanksystem für Ballastwasser »blinde Passagiere« weltweit verschleppt: insbesondere Algen, Muscheln, Krebse und Manteltiere. Auch der Handel von Zuchtaustern brachte unbemerkt daran haftende »Exoten« an viele Küsten. Und aus dem Pontokaspischen Raum erlaubten Kanäle zwischen den europäischen Flüssen Zuwanderungen bis ins Wattenmeer.
Auch wenn Meeresströmungen alle Küsten miteinander verbinden, so unterscheiden sie sich sehr im Artenspektrum. Klimazonen bilden Grenzen, und zu einer Drift quer über Ozeane sind Algensporen und Larven von Bodentieren nicht in der Lage. Erst der Schiffsverkehr ermöglichte einen Austausch an Arten. Selbst aus dem fernen Pazifischen Raum werden immer mehr Organismen bis ins Wattenmeer verfrachtet, wo inzwischen über hundert Arten aus Übersee stammen. Und es werden immer mehr, trotz vorbeugender Schutzmaßnahmen wie regelmäßige Reinigungen am Unterwasserschiff und Behandlung des Ballastwassers.
Von Natur aus war das Wattenmeer artenarm. Das liegt nicht nur an den wechselhaften Gezeitenbedingungen, sondern insbesondere an den stark schwankenden Klimabedingungen durch den Wechsel von Eis- und Warmzeiten im Nordatlantikraum. Zwar sind Wattböden üppig besiedelt, aber kommt eine neue Art hinzu, die etwas kann, was die anderen nicht können, findet sie ihren Platz und wird ökologisch integriert. Mitunter erfolgt nach der Ankunft eine rasante Vermehrung, die dann aber nach einigen Jahren wieder abklingt. Die Populationsgröße pendelt sich ein. Integration braucht ihre Zeit.
Das geht nicht immer ohne Gerangel. Blieb die erstmals 1912 in der Aller aufgetauchte Chinesische Wollhandkrabbe in den Flussmündungen des Wattenmeeres noch völlig konkurrenzlos, weil keine andere Krabbe dort vorkam, ist Anfang dieses Jahrtausends ein Kampf zwischen zwei weiteren pazifischen Krabbenarten und der heimischen Strandkrabbe entbrannt.
Konkurrenz um Lebensraum
Zuerst krabbelten die Eingeschleppten meist nur unter Steinpackungen der Deiche und Hafenanlagen, aber dann gefielen ihnen auch die großen Muschelbänke im Wattenmeer. Junge Strandkrabben gleicher Größe meiden die Nähe der flinkeren Asiaten. Die mehr als doppelt so großen erwachsenen Strandkrabben behalten zwar noch die Oberhand, müssen aber inzwischen ihren Lebensraum mit den neuen Krabben teilen. Wie der Streit ausgehen wird, ist offen.
Pazifische Austern wurden als kulinarischer Ersatz für Europäische Austern eingeführt. Die verschwanden aus dem Wattenmeer durch Raubbau, lange bevor der Import aus Japan sich ausbreitete. Austernzüchter glaubten, die nordeuropäische Küste sei zu kalt für die Vermehrung der im Wattenmeer – in Netztaschen auf Gestellen – gemästeten, neuen Austern. Doch es wurde wärmer und ihre Planktonlarven fanden in den Muschelbänken ideale Bedingungen zum Anheften. Sie wuchsen dort zu Austern heran, durchschnittlich dreimal so groß wie ihre Artverwandten im koreanischen Watt.
Zunächst sah es so aus, dass die schnell wachsenden Austern die Miesmuscheln von ihren Bänken verdrängen würden. Doch wuchsen dann immer mehr Austern an-und übereinander. Es entstanden komplexe, tief im Boden verankerte Riffstrukturen. Die wiederum bieten mit ihren Nischen nun Miesmuscheln Schutz vor Krebsen und Vögeln, sodass eine höchst stabile Lebensgemeinschaft entstanden ist, resistent gegen Stürme und Eisschollen. Außer den Pazifischen Austern beherbergen die neuen Riffe inzwischen rund zwanzig weitere Arten aus Übersee, ohne dass eine der alteingesessenen verschwand. So nahm überall im Wattenmeer die Artenvielfalt zu. Die Neuen wieder zu entfernen, ist im Meer kaum möglich. Auch ist fraglich, ob dies überhaupt noch wünschenswert wäre.
Anpassung an neue Gegebenheiten
Was hat sich verändert? Vor hundert Jahren war noch oberstes Ziel, das »nutzlose und öde« Watt in Land für Viehzucht und Ackerbau umzuwandeln. Dafür war ein am Ufer des Ärmelkanals neu entstandenes Gras gerade recht. Von der nordamerikanischen Küste kam mit Schiffsballast ein Schlickgras an und kreuzte sich mit einer europäischen Art. Durch Verdopplung der Chromosomen ging schließlich eine besonders wuchskräftige neue Art daraus hervor, die im Wattenmeer für die »Landgewinnung« angepflanzt wurde.
Zunächst langsam, doch durch die wärmer werdende Nordseeküste mit zunehmender Geschwindigkeit gewann das neue Schlickgras Land hinzu. Zwischen dem dichten und hoch aufragenden Wuchs sammelt sich viel Schlick an, den ein dichtes und dauerhaftes Wurzelwerk festhält. Meist bleibt der Wuchs fleckenhaft und die einheimische Vegetation profitiert sogar vom neuen Nachbarn, der den Wattboden stabilisiert.
Erst seit wenigen Jahren tauchen weit draußen im Sylter Watt, wo die Sandbänke nur bei Springtide kurz auftauchen, zwei neue Schlauchalgen unbekannter Herkunft auf. Im Gegensatz zum Schlickgras, sind sie völlig unscheinbar. Aber sie verändern durch ihren dichten Wuchs den Wattboden. Wo gerippelter Sand war, sammelt sich bis zu zwanzig Zentimeter hoher Schlick an. Das bewirken die dicht an dicht aus dem Wattboden ragenden, haarfeinen grünen Algenfäden, die im Untergrund miteinander verfilzt sind. Alles, was an feinen Partikeln von der Flut herangetragen wird, bleibt zwischen den Schlauchalgen hängen.
Schlickgras, Schlauchalgen und Austernriffe mit Miesmuscheln verfestigen den Wattboden und erhöhen ihn. Das kann zum Erhalt des Wattenmeeres auf natürlichem Wege beitragen, wenn durch die globale Erwärmung der Meeresspiegel in den nächsten hundert Jahren um rund einen Meter ansteigen wird. Auch um mit der Klimaerwärmung mitzuhalten, könnten sich die Neuen als nützlich erweisen. Da das Wattenmeer nördlicher liegt und damit kühler ist als andere Küsten, von denen die meisten Schiffe herkommen, sind nahezu alle mitgeschleppten Organismen bereits an wärmere Bedingungen gut angepasst. Zwar wandern auch durch natürliche Ausbreitung von Süden her Arten ein. Das aber dauert länger, als es die in den letzten vierzig Jahren um ein bis zwei Grad zugenommenen Durchschnittstemperaturen in Wasser und Luft nun verlangen.
Neu verstandenes Ökosystem
Die Flut von Arten aus Übersee und ihr Einmischen in die hergebrachten Lebensgemeinschaften hat im Nebeneffekt der ökologischen Wissenschaft zu neuen Einsichten verholfen. Durch eingeschleppte Arten wird heute gut doppelt so viel Nordseewasser filtriert: Amerikanische Pantoffelschnecken und Schwertmuscheln, Pazifische Austern und Manilamuscheln, Seepocken aus Australien, zahlreiche Manteltiere aus Ostasien, sie alle ernähren sich als Filtrierer von dem, was im Küstenwasser vom Plankton produziert wird. Auch das ist mehr geworden, gedüngt durch die zu hohen Nährstofffrachten, die über die Flüsse vom Land in die Nordsee fleßen. Aber auch ohne diese Zusatzproduktion zeigt sich, dass das Wattenmeer ein offenes und ungesättigtes Ökosystem ist. Eine geschlossene Gesellschaft, die Fremde abwehrt, gibt es dort nicht.
Die ökologische Integrationsfähigkeit ist erstaunlich. Sie hat die Arten- und Biotopvielfalt merklich erhöht sowie die Leistungsfähigkeit des Ökosystems gestärkt. Voraussichtlich werden die Neuen bei Anpassungen an das steigende Meer und wärmere Klima helfen. Eingeschleppte Würmer und Muscheln bieten den durch den Klimawandel in Bedrängnis geratenen Watvögeln zusätzliche Nahrung. Besonders die Langstreckenflieger unter ihnen – die in der Arktis brüten und in Westafrika überwintern – brauchen durch die verfrühte Schneeschmelze im Norden auf ihrer Zwischenstation im Wattenmeer mehr Nahrung in kürzerer Zeit.
Was lernen wir daraus?
Alles in allem sind die Auswirkungen der aus ihren Ursprungsgebieten verschleppten Arten im Wattenmeer besser als ihr Ruf. Was nicht heißt, dass nicht auch unter ihnen bedrohliche Organismen sein können, so wie die eingeschleppten Pilze den europäischen Ulmen und Eschen schwer zusetzen oder Ratten auf ozeanischen Inseln den Brutvögeln alle Gelege rauben. Schutzvorkehrungen sind daher nötig, auch wenn bisher im Wattenmeer Vergleichbares nicht passiert ist.
Was sich aber ändern sollte, ist die pauschale und anhaltende Ablehnung der inzwischen ökologisch integrierten Arten aus Übersee. Sie haben ihren Platz gefunden und sind Teil der Natur geworden. Sie sind ebenso natürlich in all dem, was sie tun, wie andere Arten auch. Die Natur leidet nicht unter ihnen, sondern wird bereichert. Das ökologische Netz im Welterbe Wattenmeer ist feinmaschiger geworden, und uns verbinden über hundert Einwanderungsgeschichten mit dieser erstaunlich integrationsfähigen Natur.