Rewilding: Comeback der selbstbestimmten Natur
Der Mensch gibt einen Anstoß, zieht sich zurück und überlässt das Weitere der Natur: Das ist das Konzept des »Rewilding«. Es hat enormes Potenzial, führt aber auch zu gesellschaftlichen Konflikten, wie Christine Sonvilla in diesem Beitrag aus der Nationalpark 03-2024 erklärt.
10.09.2024
»Bis 2010 gab es das Wort Rewilding in Europa nicht einmal«, erklärt Wouter Helmer, Mitgründer der Organisation Rewilding Europe. Heute ist daraus ein Naturschutzkonzept geworden, das über den klassischen Naturschutz weit hinausgeht. Mitte der 2000er Jahre tauchten in Fachjournalen wie Science und The American Naturalist Publikationen auf, die erstmals für die breite Wissenschaftsgemeinschaft den Einfluss von Megaherbivoren, also großen Pflanzenfressern, auf die Landschaftsgestaltung betonten.
Große Pflanzenfresser wie Mammuts, Riesenhirsche oder Wollnashörner hätten vor der letzten Eiszeit mit ihrer grasenden Tätigkeit maßgeblich zum Erhalt eines komplexen Nahrungsnetzes beigetragen, und ihre Ausrottung habe zur Verarmung der Natur geführt. Was also tun, um der Natur wieder auf die Sprünge zu helfen?
Die Idee ist, überlebende Pflanzenfresser vermehrt anzusiedeln, damit sie die verlorenen ökologischen Funktionen und Vernetzungen wiederherstellen. Der traditionelle Naturschutz fokussierte sich bis dahin auf das Konservieren von Zuständen, also das Erhalten von Landschaften, die als ursprünglich angesehen wurden, und das Schützen von gefährdeten Arten. Die Crux dabei: Was ist »ursprünglich«? Die Landschaft vor Beginn des Industriezeitalters, die Landschaft unserer Eltern oder unserer Kindheit?
Rewilding propagierte einen Fokuswechsel, weg von dem, was statisch ist, hin zu dem, was sich dynamisch entwickeln kann. Das war und ist nach wie vor revolutionär. Paul Jepson und Cain Blythe, die Autoren von Rewilding – The radical new science of ecological recovery, bringen es auf den Punkt: »Das war so, als hätte der Punkrock in die Naturschutz-Wissenschaftsszene eingeschlagen.«
Beispiele aus den Niederlanden
»Wir schufen natürlichere Überschwemmungsgebiete und brachten große Pflanzenfresser zurück. Rund 2.000 frei lebende Konik-Pferde und unterschiedliche Arten von Rindern grasen bereits seit der Jahrtausendwende in den Niederlanden, wie etwa entlang der Maas«, erzählt Wouter Helmer. Vor rund 30 Jahren startete das Grensmaas-Projekt, das die Maas auf einer Länge von 43 Kilometern zwischen Maastricht und Roosteren wieder freier fließen lassen sollte. Es reduzierte dabei gleichzeitig das Hochwasserrisiko und ließ viele einst verschwundene Tier- und Pflanzenarten, darunter Fischotter, Biber und Wölfe, zurückkehren.
Heute kann sich die Natur auch über die Grenzen des Schutzgebietes hinaus auf mehr als 20.000 Hektar Land wieder freier entfalten. Und das in den Niederlanden, einem der am dichtesten besiedelten und am intensivsten genutzten Länder Europas. »Wenn es dort gelingt, kann es überall gelingen«, gibt sich Helmer optimistisch.
Potenzial für Kontroversen
Gleichzeitig birgt diese Form des Naturschutzes auch Potenzial für Kontroversen. Das zeigt sich insbesondere an jenem Rewilding-Projekt, mit dem die Niederlande am häufigsten in Verbindung gebracht werden: Oostvaardersplassen. Dort wurde die Prämisse des Rewilding, »der Mensch hält sich zurück und überlässt der Naturentwicklung ihren Lauf«, auf eine harte Probe gestellt. In strengen Wintern kam es zu Nahrungsengpässen, weswegen Rinder und Pferde verhungerten. In Oostvaardersplassen galt das lange Zeit als Teil des »natürlichen Kreislaufs«. Kadaver von Tieren dienen auch Aasfressern wie Geiern als Nahrung und landen als Nährstoffe im Boden. Kritiker finden das grausam und unvertretbar.
Rewilding durch Dam Removal
Nicht nur Wildtiere geben Rewilding-Anstöße, auch ein Bagger kann das tun. Die 2016 gestartete Initiative Dam Removal Europe rechnet vor, dass etwa 100.000 alte oder obsolet gewordene Dämme und Staumauern in Europa entfernt werden könnten. Das birgt gigantisches Potenzial. »Keine andere Maßnahme bringt die ökologische Funktion von Flüssen so effektiv zurück wie der Rückbau von Dämmen«, sagt etwa John Waldman, Biologe aus den USA. Er weiß, wovon er spricht, denn in den Vereinigten Staaten ist Dam Removal seit vielen Jahrzehnten eine etablierte Naturschutzmethode.
Europa hat noch Aufholbedarf, aber die Welle ist bereits am Rollen, mit mehr als 8.000 Querbauwerken, die in den letzten Jahren aus europäischen Flüssen entfernt wurden.
Rinder, Schweine, Ponys und Hirsche
Isabella Tree und ihr Mann Charlie Burrell wagten zu Beginn der 2000er Jahre ein radikales Experiment. In West Sussex im Süden Englands stand ihre rund 14 Quadratkilometer große Farm, Knepp Estate, vor dem Bankrott. Intensive Bewirtschaftung hatte sie völlig unrentabel gemacht. Doch statt alles aufzugeben, sattelten die Besitzer um. Sie verkauften ihre Milchkühe und die dazugehörigen Maschinen, schraubten die menschliche Intervention zurück und setzten – auch mithilfe entsprechender Naturschutzförderungen – auf Rewilding mithilfe von English-Longhorn-Rindern, Tamworth-Schweinen, Exmoor-Ponys sowie Dam- und Rothirschen.
Das Resultat überzeugte sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich. Schon wenige Jahre später schoss die Artenvielfalt nach oben. Auf dem weitläufigen Grundstück nisten seither Nachtigallen, Turteltauben und Wanderfalken. Große Schillerfalter kehrten zurück und 13 der 17 Fledermausarten Großbritanniens ließen sich nachweisen. 2020 brütete dort erstmals seit 600 Jahren Abwesenheit im Vereinigten Königreich wieder ein Weißstorchpaar. Von Fördergeldern hängen die Knepp-Estate-Besitzer längst nicht mehr ab, sie setzen hauptsächlich auf Ökotourismus und den Verkauf von Wildfleisch.
Offene Fragen
»Rewilding« kann viele Formen annehmen. Eine konkrete wissenschaftliche Definition steht bisher aus, aber man ist sich einig, dass es darum geht, ökologische Prozesse, Nahrungsketten und Interaktionen mit dem Ziel wiederherzustellen, komplexe, sich selbst organisierende Ökosysteme zu fördern. Das fördert spannende Erkenntnisse zutage, wie etwa jene, dass Europa einst wohl nicht flächendeckend von Wald bedeckt war, sondern viel eher ein Mosaik an Lebensräumen, gestaltet von grasenden Pflanzenfressern.
Damit Rewilding aber überhaupt Wirkung zeigen kann, braucht es möglichst große Flächen. Sind wir gewillt, diese quasi außer Nutzung zu stellen? Und was, wenn diese Flächen abgeschlossene, umzäunte Gebiete darstellen? Wie geht man mit wachsenden Beständen von Pflanzenfressern um? Sollen sie gefüttert oder bejagt werden? Auf dem Knepp Estate beispielsweise werden sie zur Fleischproduktion genutzt.
Genauso umstritten: Wie verfahren wir mit angesiedelten oder zurückkehrenden Beutegreifern? Akzeptieren wir den Lauf der Dinge oder greifen wir regulierend ein?
Zukunftsperspektiven
»Wir lebten in einer ökologischen Wüste, aber wir haben es geschafft, fantastische, wilde Gebiete zurückzubringen, in denen das Leben explodiert. Wildkatzen und Wölfe sind schon wieder da, der Luchs hat es beinahe geschafft und erstmals ist auch der Goldschakal aufgetaucht«, erzählt Wouter Helmer euphorisch von den Rewilding-Projekten entlang der Maas oder der Waal in den Niederlanden.
Aus ökologischer Perspektive bietet das »Rewilden« enormes Potenzial. Ob es gesellschaftlich tragfähig ist, wird sich zeigen. Vielleicht kommen wir mit Mischformen des Naturschutzes am weitesten – dynamisch-konservativ sozusagen.