25 Jahre Stoffgeschichte

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Stoffgeschichte?

Vor 25 Jahren führten Markus Huppenbauer und Armin Reller in einem Artikel in der Zeitschrift GAIA den Begriff Stoffgeschichte ein. Das Konzept ist zu einem Markenzeichen des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wirkens des Chemikers Armin Reller geworden und soll dazu anleiten, eine nachhaltige Stoff- und Energiewende voranzutreiben. Aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums werfen wir einen Blick zurück auf die Arbeiten Armin Rellers zum Thema Nachhaltigkeit. Von Walter Schindler.

21.05.2021

Was heißt und zu welchem Ende studiert man Stoffgeschichte? | Stoffgeschichten Wissenschaftsgeschichte Wissenschaft Chemie Kulturgeschichte

Vor 25 Jahren veröffentlichten Markus Huppenbauer und Armin Reller den Begriff Stoffgeschichte in dem GAIA-Artikel »Stoff, Zeit und Energie: Ein transdisziplinärer Beitrag zu ökologischen Fragen« [1] – ein Artikel, der die ökologische Krise als Zivilisationskrise wahrnimmt. Die Krise ist umfassend: Sie betrifft Erde, Wasser, Luft und Energie, sie ist eine globale Krise der Ressourcen, von denen wir leben. Sie ist ein drängendes Thema für uns – auch für die Chemie? Chemie hat es mit der stofflichen Natur zu tun, die Wissenschaft Chemie mit der Natur der Stoffe. Natur hat Geschichte – ist Chemie die Wissenschaft der Stoffe, sofern diese Geschichte haben? Studiert man Stoffgeschichte, wenn man Chemie studiert?

Was heißt, Stoffe haben Geschichte? Alle Stoffe, mit denen wir alltäglich umgehen, also zum Beispiel Häuser bauen, Kleidung und Lebensmittel herstellen oder wissenschaftliche Experimente machen, etwa chemische Stoffanalysen und Stofftransformationen, sind Dinge, die wir auf dieser Erde vorfinden und verarbeiten, nutzen und verbrauchen.

Vor 25 Jahren veröffentlicht: Der Beitrag »Stoff, Zeit und Energie: Ein transdisziplinärer Beitrag zu ökologischen Fragen« von Markus Huppenbauer und Armin Reller aus der GAIA 5/2: 103–115. Download der PDF aus unserer Mediathek (11,3 MB)

Alle Stoffe haben Teil an der Erdgeschichte: Sie sind entstanden, wachsen und vergehen und dieses »Wachsen und Vergehen« gilt nicht nur in Bezug auf Pflanzen, Tiere und Menschen, es gilt ebenso für Gesteine, Luft und Wasser. Wenn wir die stofflichen Dinge zusammen als Dinge der Natur ansprechen, dann meinen wir dieses Auf- und Vergehen, das die alten Griechen Physis genannt haben. Physik und Chemie, Biologie und Archäologie, Paläontologie und Geologie, Astronomie und Kosmologie haben es auf je spezifische Weise mit dieser Physis zu tun. Wenn wir auf diese Naturgeschichte Acht haben, dann ist die Rede von Stoffgeschichte nicht länger befremdlich.

Noch deutlicher wird der mit dem Thema Stoffgeschichte angesprochene Sachverhalt, wenn wir unseren Umgang mit der stofflichen Natur mit in Betracht ziehen. Nicht nur der technische Umgang mit den Stoffen, sondern jeder alltägliche Gebrauch und Verbrauch von Stoffen kann uns darauf hinweisen, dass wir die Stoffe für den jeweiligen Nutzen herrichten. Auf diese Weise sind die Stoffe mit den Entwicklungsgeschichten der menschlichen Kulturen verwoben.

Stoffe haben also Kulturgeschichte. Dieses Verständnis haben wir ja offenbar vor Augen, wenn wir Epochen der Menschheitsgeschichte als Steinzeit, Eisenzeit und Bronzezeit benennen. Ist also Stoffgeschichte Natur- und Kulturgeschichte der Stoffe? In welcher Weise reden wir hier von Geschichte?

Stoffgeschichte als Natur- und Kulturgeschichte

Reden wir von der Kulturgeschichte der Stoffe, dann ist der Geschichtsbegriff besetzt für das historische Geschehen des menschlichen Gattungswesens als Geschichte der Entwicklung gesellschaftlichen Zusammenlebens, der Herrschaftsformen und Herrschaftsverhältnisse und deren Erzählung in Form von Geschichten von Krieg und Frieden, Haupt- und Staatsaktionen, Entdeckungs- und Eroberungsgeschichten und später in Form von Geschichtskonstruktionen als Sozial-, Wirtschafts-, Kultur- und – mit Schiller zu reden – als Universalgeschichte. In allen diesen Geschichten spielen Stoffe »natürlich« eine Rolle, aber kann man in Bezug auf dieses historische Geschehen von Stoffgeschichte sprechen?

Da scheint es selbstverständlicher von Naturgeschichte der Stoffe zu reden. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wird Naturgeschichte ein Terminus, der den Begriff der Geschichte auf die Entwicklung der Natur anwendet und zunächst im Sinne der Epigenese von Arten und Gattungen (Lamarck) zum Thema macht. Und schon Goethe versteht seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens als Beleg für die gattungsgeschichtliche Entwicklung des Menschen in der Naturgeschichte. Mit Darwins Über die Entstehung der Arten wird dann Naturgeschichte auf den Begriff der Evolutionstheorie gebracht – die Natur als Ganze wird als ein strukturelles Entwicklungsgeschehen interpretiert.

Lesetipp: Alle Bände der Reihe Stoffgeschichten listet unsere Übersichtsseite

Für unser Problem, Stoffgeschichte als Natur- und Kulturgeschichte zu verstehen, können wir an eine Leitidee anknüpfen, die zeitgleich im 18. Jahrhundert entstanden ist, ausgeführt in Herders Ideen zur Geschichte der Menschheit [2]. Der Titel intoniert geradezu neben und zugleich mit Kants Kritik der reinen Vernunft eine zweite Revolution der Denkart, denn Herder entwirft in diesem Werk eine Naturgeschichte der Menschheit: Sie ist eine Geschichte der Menschheitsentwicklung, eingebettet in die Geschichte der Natur, verstanden als Lebensraum der Menschen auf dem Planeten Erde.

Für Herder beginnt daher die Naturgeschichte der Menschheit mit der kosmischen Erdgeschichte und der Entwicklung der Erdregionen. Der physischen Geographie der Regionen mit den jeweils besonderen Klimaten und der Diversität der Lebensformen und -räume korrespondieren die physische Bildung der »Menschenrassen« mit ihren sozialen, politischen und kulturellen Lebensverhältnissen.

Die Natur als Ganzes – Alexander von Humboldts Kosmos

Alexander von Humboldt erweitert und vertieft den Begriff Naturgeschichte. Sein Kosmos entwirft eine Ansicht des Ganzen der Natur, zu der auch die Geschichte der menschlichen Ansichten der Natur, die Ideengeschichte der Wissenschaften [3] gehört.

In dieser das Ganze der Natur umfassenden Bedeutung hat C.F. von Weizsäcker die Geschichte der Natur als Kreisgang interpretiert: »Die Natur ist älter als der Mensch, der Mensch ist älter als die Naturwissenschaft. Der Mensch, das Kind der Natur, … betreibt Wissenschaft; in der Wissenschaft spiegelt er die Natur.« [4]

Ist Stoffgeschichte eine Wissenschaft, die die Natur der Stoffe so reflektiert, dass wir sie in zwei »Halbkreisen« durchlaufen und als Natur- und Kultur- Geschichte erfahren? Auf diese Weise würden wir verstehen: Wenn wir die Natur der Stoffe naturwissenschaftlich experimentell funktionalisieren, erzeugen wir eine Geschichte, die uns zu Beobachtern und Mitspielern in der Geschichte der wissenschaftlich-technischen Zivilisation macht.

Chemisches und physikalisches Experimentieren prägt Geschichte

Der eine Halbkreis der Wissenschaft Stoffgeschichte betrifft das chemische Experiment, also die Konstruktion der stofflichen Realität des Transformationsprozesses und des Produkts. Der Entwurf des Experiments hat stoffgeschichtlich verstanden die vergangene Geschichte und die zukünftigen »Wirkwege der Stoffe« im Blick. Stoffgeschichte ist mit Life-Cycle-Assessment unterbelichtet, gefragt ist ein Konzept, das die Idee eines umsichtigen Stoffgebrauchs von Beginn an in Theorie und Praxis chemischer Experimente verankert und umsetzt.

Der zweite Halbkreis dieser Stoffgeschichte lenkt den Blick auf den »historischen Charakter« naturwissenschaftlicher Experimente. Zur Illustration des Geschichtlich-Kulturellen des experimentellen Erfahrungsraumes kann das berühmte Experiment vorzüglich dienen, das 1938 von den Chemikern Hahn und Strassmann durchgeführt worden ist. Als »Radium-Experiment« geplant, war das Transformationsprodukt nicht das erwartete Radium, sondern Barium. Den ratlosen Chemikern kam Lise Meitner zur Hilfe: »Hähnchen, lass mich das machen, von Physik verstehst Du nichts!« [5] Sie erkannte das radiochemisch nachgewiesene Barium als Produkt einer Kernspaltung, hervorgerufen durch den Neutronenbeschuss des Uranisotops U 235.

Den Nobelpreis für diese Entdeckung erhielt dann 1944 Otto Hahn; Lise Meitner wurde nicht berücksichtigt. Die Geschichte der Kernspaltung ist eine Entdeckungsgeschichte mit großer Tragweite für die weitere theoretische Entwicklung in der Physik und Chemie und für die Entwicklung der Kern- und Energietechniken. Ihre historische Bedeutung wurde von den Beteiligten und insbesondere von den Physiker*innen sofort erkannt.

Und so beginnt sogleich der zweite Halbkreis der Naturgeschichte des Urans, die Geschichte von Krieg und Frieden: Dem Bau und dem militärischen Einsatz der Atombombe folgte die »friedliche Nutzung« der Kernenergie mit der Entwicklung der Reaktortechnologie und dem Bau von Kernkraftwerken zur Grundversorgung der Energiewirtschaft. Der Titel »Atomzeitalter Krieg und Frieden« [6] benennt genau die Wirkungsgeschichte der Kernspaltung – sie ist ein prägnantes Beispiel für unser Verständnis von Stoffgeschichte.

Die Reformation der Naturwissenschaften auf den Weg bringen

Zu welchem Ende nun studiert man Stoffgeschichte? »Lassen Sie mich – sagte Schiller in seiner Antrittsrede am 26. Mai 1789 in Jena – einen Augenblick bei dem Zeitalter stille stehen, worin wir leben, bei der gegenwärtigen Gestalt der Welt, die wir bewohnen. Der menschliche Fleiß hat sie angebaut und den widerstrebenden Boden durch sein Beharren und seine Geschicklichkeit überwunden. Dort hat er dem Meere Land abgewonnen, hier dem dürren Lande Ströme gegeben. Zonen und Jahreszeiten hat der Mensch durcheinandergemengt und die weichlichen Gewächse des Orients zu seinem rauheren Himmel abgehärtet. Wie er Europa nach Westindien und dem Südmeere trug, hat er Asien in Europa auferstehen lassen. Ein heiterer Himmel lacht jetzt über Germaniens Wäldern, welche die starke Menschenhand zerriß und dem Sonnenstrahl auftat, und in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben.« [7]

Stehen wir nun einen Augenblick bei dem Zeitalter stille, worin wir leben, dann ist die gegenwärtige Gestalt der Welt, die wir bewohnen, gezeichnet durch die fortschreitende Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Wir haben Zonen und Jahreszeiten durcheinandergemengt und Naturzerstörungen weltweit hervorgebracht in einer Größenordnung, die durch natürliche Regenerationsprozesse nicht mehr kompensiert werden können. Die Irreversibilität vieler Zerstörungsprozesse, wie das Artensterben und die Vernichtung tropischer Wälder, wird viel zu zögerlich wahrgenommen.

Und entsprechend bewirken auch die Szenarien, die zur Demonstration der Gefahrenpotenziale entwickelt werden, wie etwa Modelle der Klimaänderungen und deren Folgen, in Relation zur Reichweite ihrer Wirkungsdimensionen, viel zu geringe Konsequenzen. Offensichtlich ist der notwendige Bewusstseinswandel auf den individuellen wie auf den kollektiven, den nationalen und den internationalen Handlungsebenen ein Prozess, der mit der Dynamik und der Geschwindigkeit der Problemerzeugung nicht Schritt hält.

Zu welchem Ende also studieren wir Stoffgeschichte? Die Frage richtet sich auf das Dilemma, das mit dem Sachverhalt angesprochen ist, dass Wissenschaft und Technik die Welt, in der wir leben, produzieren und damit maßgeblich die Struktur und die Dynamik der ökologischen Probleme mitbestimmen. Der angemahnte Bewusstseinswandel zielt also auf die technische Rationalität der modernen Wissenschaften. Wenn wir weiterhin unterstellen wollen, dass Wissenschaft und Technik Gestaltungspotenziale unserer Welt sind, die – mit Schillers Worten – einen heiteren Himmel hervorbringen können, dann ist eine Reformation der Naturwissenschaften an Haupt und Gliedern nötig. Die Idee der Stoffgeschichte soll dies für die Chemie auf den Weg bringen.


Anmerkungen

1 Huppenbauer, M., A. Reller. 1996. Stoff, Zeit und Energie: Ein transdisziplinärer Beitrag zu ökologischen Fragen. GAIA 5/2: 103–115. Freier Onlinezugang auf Ingenta Connect oder direkter Download der PDF aus unserer Mediathek (11,3 MB).

2 Herder, J.G. 1827. Ideen zur Geschichte der Menschheit – Erster Theil. 1784. Tübingen.

3 von Humboldt, A. 1847. Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Zweiter Band. Stuttgart und Tübingen.

4 von Weizsäcker, C.F. 1977. Der Garten des Menschlichen. Beiträge zur geschichtlichen Anthropologie. München.

5 Mündliche Mitteilung von C.F. von Weizsäcker.

6 Howe, G. (Hrsg.). 1963. Atomzeitalter, Krieg und Frieden.

7 Schiller, F. 1958. Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. In: Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Band IV. Historische Schriften. München.

 

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