Umweltforschung

»Wir müssen das Meer in allen Teilen unseres Handelns mitdenken«

Antje Boetius beobachtet Ozeane und forscht zu marinen Technologien. Im Interview mit unserer Zeitschrift GAIA erzählt sie, was ihr in Sachen Klimawandel Sorgen bereitet, woraus sie Hoffnung schöpft und welchen Beitrag die Umweltforschung für eine nachhaltige Zukunft leisten kann.

31.01.2020

»Wir müssen das Meer in allen Teilen unseres Handelns mitdenken« | Meeresschutz Wissenschaft Anthropozän

GAIA: 1. Welche sind aus Ihrer Sicht die drängendsten Umweltprobleme?

Antje Boetius: Mir macht der weitere Anstieg der CO2-Emissionen Sorgen. Es bleiben nur noch wenige Jahre, um das globale Energiesystem umzubauen. Nur dann haben wir eine Chance, die Erderwärmung auf ein Maß zu begrenzen, das nicht katastrophale Folgen für uns alle hat, etwa Erwärmung der Arktis, Verlust von Korallenriffen, Waldbrände, Dürren, Fluten – und damit noch schnelleren Artenschwund und Vertreibung von Menschen aus ihrer Heimat.

2. Was gibt Ihnen Hoffnung auf eine Verbesserung der Umweltsituation?

Ich habe das hoffnungsvolle Gefühl, dass etwas in Bewegung gekommen ist, immer mehr Menschen wollen die Veränderung. Der Generationenkonflikt um die Gestaltung der Zukunft wird nun offen diskutiert und die Regierung hat mit Kohleausstieg und Klimakabinett den Faden hin zu den versprochenen Zielen wieder aufgenommen. So hoffe ich sehr auf das dringend notwendige politische Handeln, ohne das wir nicht schnell genug vorankommen. Und überall sind im Kleinen schon Familien, Nachbarschaften, Dörfer, Städte unterwegs, sich Wege in die Zukunft aus eigener Kraft zu erschließen. Zuletzt habe ich das in den Westermänner-Inseln bei Island und im Mölltal in Österreich bewundert, aber auch bei uns gibt es etwa mit Tübingen und Freiburg tolle Beispiele, wie umgebaut werden kann. Zudem geben mir Menschen Hoffnung, die angefangen haben, weltweit aufzuforsten und Naturlandschaften zu schützen – die Bewegung wächst.

3. Welche umweltpolitische Reform halten Sie für sinnvoll?

Im Kern vieler Probleme steckt das Dilemma, dass wir sämtliche Umweltkosten und -schäden externalisiert haben. Die Kosten von Natur-, Umwelt- und Ressourcennutzung müssen nachvollziehbar bepreist und ehrlich kommuniziert – und zugleich Subventionen umweltschädlicher Prozesse abgebaut werden. Als ersten Schritt in eine solche globale Reform halte ich eine steigende CO2-Bepreisung gekoppelt an eine Klima- und Umweltdividende für geeignet. Das würde erlauben, Klimaschutz und Gerechtigkeit zu koppeln. Andernfalls bezahlen die Armen am meisten, sind aber am wenigsten Verursacher.

4. Welchen Trend in der Umweltpolitik halten Sie für eine Fehlentwicklung?

Es gibt zu viele kleinteilige Verbote und Regelungen, die die Menschen beschäftigen und die den Bedarf an großen und wirksamen Maßnahmen vernebeln, etwa kleinräumige Fahrverbote statt einer effektiven Verkehrswende. Es gilt zudem, Anreize und Subventionen im vollen Ressourcen- und Umweltkreislauf zu durchdenken, damit sie nicht das Gegenteil bewirken: Energie und Materialkosten neuer Technologien können so hoch sein, dass eine gewünschte Energieersparnis nicht zum Tragen kommt.

5. Wozu Umweltforschung?

Als Meeres- und Polarforscherin hat Umweltforschung für mich damit zu tun, den Ozean in unserem Erdsystem zu verstehen und damit auch die Grundlagen für nachhaltige Zukunft zu schaffen. Wir leben viel zu sehr mit dem Rücken zum Meer – wir müssen aber das Meer in allen Teilen unseres Handelns mitdenken. Immer wieder zeigen wir Umweltwissenschaftler(innen) da erstaunliche Fehlsteuerungen auf – ich erinnere nur an die Vermüllung der Meere.

6. Welche Erfahrungen haben Sie beim Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis gesammelt?

Es gibt gute und schlechte Beispiele – zu wenig reden wir über die positiven. Wir haben schon einiges geschafft, zum Beispiel auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnis die FCKW-Nutzung einzudämmen. Oder das Phosphat aus Waschmitteln zu nehmen, damit Flüsse und Meere wieder sauberer werden. Aber nun steht eben das größte Problem noch vor der Tür: Wir haben gerade noch eine Dekade, um eine Infrastruktur zu schaffen, die uns erlaubt, aus der Nutzung fossiler Brennstoffe bis spätestens 2050 auszusteigen. Dabei wissen wir seit rund 30 Jahren, dass kein Weg darum herumführt.

7. Welchen Bereich der Umweltwissenschaften – außerhalb Ihres Arbeitsgebiets – finden Sie besonders spannend?

Momentan interessieren mich besonders die Schnittmengen von Umweltwissenschaft und Ökonomie und Sozialwissenschaft. Und wie das Zeitalter des Anthropozäns, der Verlust an Natur auf die Kunst wirkt und dort aufgegriffen wird.

Lesetipp: Gewässer im Klimawandel - Lesetipps zu Renaturierung, Hochwasserschutz und mehr

8. Wer oder was hat Sie in Ihrem Engagement für die Umwelt besonders geprägt?

Für mich war es die Expedition mit dem Forschungsschiff Polarstern in die zentrale Arktis 2012. Wir waren in der Nähe des Nordpols, als die größte bislang beobachtete Meereisschmelze stattfand, und waren Augenzeugen, wie sich alles änderte, von der Meeresoberfläche bis in die Tiefsee. Das hat mich tief berührt und seitdem nehme ich mir mehr Zeit für die Diskussion zu Klima und Umweltschutz. Sehr bewegt hat mich auch ein Gespräch mit dem Biologen E.O. Wilson in Harvard. In seinem Buch »Half Earth« schreibt er über die Unabdingbarkeit von effektivem Naturschutz in großen Teilen der Erde. Er ist so wach und engagiert und so sicher, dass es jetzt für die Artenvielfalt um alles geht. Das hat mich darin bestärkt, dass wir Umweltwissenschaftler(innen) eine klare Haltung einnehmen und mehr über die Zukunft reden sollten. Mich beflügeln auch Gespräche mit engagierten Denker(innen), etwa mit Ottmar Edenhofer, der mit beeindruckendem Optimismus an ökonomischen Prinzipien einer Ermöglichung der Transformation arbeitet. Oder mit Maria Krautzberger, der Präsidentin des Umweltbundesamts, die einen sehr klaren, pragmatischen Blick auf die Komplexitäten des Umweltschutzes hat und dabei dicht an den Menschen ist.

9. Welches Wissen würden Sie jungen Menschen über die Umwelt mitgeben wollen?

Ich mache da keinen Unterschied zwischen alt und jung – ich erzähle gerne von den Geheimnissen der Tiefsee und der Polarregionen oder der Mikrobenwelt auf der Erde. Es ist doch wirklich verrückt, dass rund 90 Prozent der Artenvielfalt noch unbekannt sind und wir ständig neue Landschaften im Meer entdecken – dass aber durch unseren schlechten Umgang mit der Natur der Artenschwund noch schneller ist als die Entdeckungsrate.

10. Mit welchen Widersprüchen im Alltag sind Sie als Wissenschaftlerin, die sich mit Nachhaltigkeitsproblemen beschäftigt, konfrontiert?

Mich regt besonders auf, dass in der aktuellen Verzichtsdebatte immer wieder so getan wird, als seien die Natur und der Erhalt einer gesunden Umwelt ein Luxus, den wir uns nicht leisten können – und als sei der Konsum von Billigware, Billigfliegen, Billigfleisch und Wegwerfprodukten fest in unserer DNA verankert. All das ist innerhalb nur einer Generation entstanden und ein so neues Verhalten, dass ich da gar nicht von Verzicht reden möchte.

11. Was lesen Sie gerade?

2019 feiern wir das Alexander-von-Humboldt-Jahr. Ich lese sehr viel in seinen Briefen und Büchern. Ein erstaunlicher Querdenker. Mir sagt zu, wie er die Wissenschaft von der Erde und Natur mit Fragen von Ästhetik und Empfindung verknüpft hat. Von ihm stammt der Satz: »Überall habe ich auf den ewigen Einfluss hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt«. Genau diese Verknüpfung zwischen Umwelt und Mensch über ein empathisches Band halte ich für eine ganz wesentliche Frage.

12. Welche hier nicht gestellte Frage ist die wichtigste?

Für mich ist es die existenzielle Frage, wie Klima- und Umweltbewusstsein mit dem Streben nach Gesundheit, Gemeinwohl und Gerechtigkeit verknüpft werden kann.

Antje Boetius ist wissenschaftliche Direktorin am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven und Professorin für Geomikrobiologie der Universität Bremen. 2018 erhielt sie den Deutschen Umweltpreis der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).

Das Interview erschien erstmals im Oktober 2019 in der Zeitschrift GAIA – Ecological Perspectives for Science and Society.

Dieses Interview erschien in 

  

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