Der Wert der Auen: Natürliche Flussläufe sind der beste Hochwasserschutz
Laut Biodiversitätsstrategie sollten die Auenflächen in Deutschland bis 2020 um zehn Prozent zunehmen – erreicht wurde bis heute nur ein einziges Prozent. Erfolgreiche Projekte an Elbe und Isar zeigen, dass die Verknüpfung verschiedener Vorteile die Akzeptanz vergrößern kann, erklärt Axel Kölling in seinem Artikel aus der Nationalpark 03-2023.
22.09.2023
Am Anfang war die Flut. Tagelange Regenfälle sorgten im August 2002 für das erste sogenannte »Jahrhunderthochwasser« des neuen Jahrzehnts in Mitteleuropa. Mindestens 45 Menschen in Deutschland, Österreich und Tschechien starben. Versicherungen schätzten die Höhe der finanziellen Schäden auf rund 15 Milliarden Euro.
Dieser Schock sorgte für die letzten Unterschriften, die noch für den Start des Naturschutzgroßprojekts Lenzener Elbtalaue benötigt wurden: Bis 2011 setzte der BUND gemeinsam mit dem Land Brandenburg die größte Deichrückverlegung in Deutschland um – eine Maßnahme, deren positive Wirkungen für den Hochwasserschutz mittlerweile ebenso erwiesen sind wie für die Biodiversität und den Tourismus.
»Als wir das Projekt 2002 in Lenzen anfingen, hofften wir, dass man so etwas anschließend an vielen Stellen machen würde«, berichtet der damalige Projektleiter Dr. Christian Damm, heute am Aueninstitut des Karlsruher Instituts für Technologie, KIT, tätig. »Alle waren ganz begeistert.« Doch dann setzte die »Hochwasser-Demenz« ein, die von Fachleuten regelmäßig beobachtet wird: Spätestens zwei Jahre nach einer Flutkatastrophe verschwindet in der Öffentlichkeit jedes Gefühl der Dringlichkeit.
Und selbst wenn die Bedrohung im Bewusstsein bleibt, greifen die Entscheidungsträger meist in die gleiche Instrumentenkiste wie zu Urgroßvaters Zeiten: Ein höherer Deich muss her. Dieses kostspielige Wettrüsten gegen die Natur lässt sich angesichts des Klimawandels und der zunehmenden Extremwetterereignisse jedoch nicht gewinnen.
Eine Gruppe deutscher und amerikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hat daher überlegt, wie sich der ungesunde Zyklus aus Vergessen und Betonieren durchbrechen lässt. »Die Frage war: Wie kann man den Gedankenrahmen ein bisschen verschieben«, erklärt Professorin Sonja Jähnig vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei, IGB, in Berlin. »Wir wollten weg davon, Hochwasser nur als Gefahr darzustellen, und hin zu dem Bewusstsein, dass es zu einem natürlichen Flusssystem dazugehört.« Es gehe darum, die Bedingungen wieder an die natürlichen Bedürfnisse anzugleichen, beispielsweise durch Deichrückverlegungen und angepasste menschliche Nutzungsformen. »Wir wollten Beispiele finden, wo das bereits gut funktioniert hat«, so Jähnig.
Mehrfachnutzen für Mensch und Umwelt
Als erstes deutsches Beispiel für die Studie, deren Ergebnisse sie in der Fachzeitschrift Frontiers in Environmental Science veröffentlichten, analysierten sie das Projekt Lenzener Elbtalaue. Zentrale Maßnahmen des Vorhabens an der Mittelelbe waren der Bau eines neuen, sechs Kilometer langen Deichs weiter im Hinterland und das punktuelle Abtragen des alten Deichs, sodass der Fluss insgesamt 4,2 Quadratkilometer an zusätzlichen Überschwemmungsflächen erhielt.
Die Bundesanstalt für Gewässerkunde belegte bereits wenig später die Wirksamkeit des Projekts: Während der Flut im Juni 2013 verringerte sich der Hochwasserscheitelpunkt lokal um fast 50 Zentimeter. Auch die 25 Kilometer flussaufwärts gelegene Stadt Wittenberge profitierte noch von einer Absenkung um rund zehn Zentimeter.
Gleichzeitig schuf das Projekt wertvolle Auenlebensräume, die als Hotspots der Artenvielfalt gelten. »Vor der Deichrückverlegung war das Gebiet ein relativ monotones Grünland mit ein paar Gehölzstreifen«, sagt Dr. Meike Kleinwächter, Leiterin des BUND-Auenzentrums in Lenzen. »Da ist die Artenvielfalt irgendwann überschaubar geworden.«
Um die Rückkehr der gefährdeten Tiere und Pflanzen zu beschleunigen, legte das Projektteam neue Flutmulden an, die vom Hochwasser gespeist werden und abwechslungsreiche Lebensräume für Fische, Amphibien und Vögel bieten. Pflanzungen unterstützen die Rückkehr des Hartholzauwalds – allerdings kommt die Waldentwicklung nur langsam voran, weil die Setzlinge mit Problemen wie der extremen Trockenheit im Sommer und Verlusten durch Eisgang im Winter zu kämpfen haben.
Auf rund 30 Hektar ist eine halboffene Weidelandschaft entstanden; diese wird von einer Herde Wildpferde genutzt, die auch als Touristenattraktion dient. Spaziergänger können auf einem sieben Kilometer langen Rundweg jetzt mit etwas Glück auch Kraniche, Braunkehlchen oder Seeadler beobachten, aber auch seltene Pflanzenarten wie Sumpfwolfsmilch, Gottesgnadenkraut und Krebsschere.
Renaturierung in der Großstadt
Als zweites deutsches Projekt untersuchten die Forschenden die Renaturierung der Isar in München. Das Projekt zeige, dass Fluss- und Auenrenaturierungen auch in dicht besiedelten, urbanen Gebieten möglich seien, schreiben sie. Im Rahmen des »Isar-Plans« verfolgten die Stadt München und das Land Bayern im Zeitraum von 2000 bis 2011 drei Hauptziele: die Verringerung des Hochwasserrisikos, die Wiederherstellung von Lebensräumen im Fluss und die Verbesserung des Freizeitnutzens.
Das Hochwasserrisiko wurde vor allem dadurch verringert, dass dem Fluss nun mindestens 90 Meter statt vorher 50 Meter Raum gegeben werden. Ufersicherungen aus Beton wurden entfernt und durch Kiesufer ersetzt, wodurch sich Kiesbänke bilden konnten – und damit Laichplätze und Lebensräume für den Donaulachs und andere gefährdete Fischarten. Obendrein genießt der naturnahe Flussabschnitt große Beliebtheit als Naherholungsgebiet.
Der Erfolg der beiden Projekte hat jedoch nicht dazu geführt, dass ihnen eine Welle an neuen Flussrenaturierungen in Deutschland gefolgt wäre. Der Auenzustandsbericht des Bundesamts für Naturschutz, der erstmals 2009 veröffentlicht und 2021 aktualisiert wurde, zeichnet weiterhin ein ernüchterndes Bild. Nach wie vor kann nur rund ein Drittel der ehemaligen Überschwemmungsflächen an Flüssen überflutet werden. Seit 2009 wurden zwar bundesweit rund 42 Quadratkilometer überflutbare Auenflächen zurückgewonnen – das entspricht allerdings nur einer Vergrößerung um ein Prozent. Die nationale Strategie zur biologischen Vielfalt aus dem Jahr 2007 hatte als Ziel bis 2020 einen Zuwachs um zehn Prozent ausgegeben.
Flächenpotenzial wird nicht genutzt
Trotz der dichten Besiedelung hat Deutschland viel Potenzial für Deichrückverlegungen und andere natürliche Hochwasserschutzmaßnahmen. »Sachsen-Anhalt hat die ambitioniertesten Planungen und ist auch in der Umsetzung relativ führend«, berichtet Dr. Christian Damm vom Aueninstitut des KIT. »Andere Länder sind da sehr schwach. Wenn ich mir Baden-Württemberg angucke – da hat es im sogenannten integrierten Rheinprogramm noch gar keine nennenswerte Deichrückverlegung gegeben.« Immerhin habe das Land jetzt ein Projekt an der Murg-Mündung südlich von Rastatt in die engere Wahl genommen.
Hessen habe auch noch nichts umgesetzt, obwohl dort große Potenziale lägen, etwa am östlichen Ufer des Rheins zwischen Mainz und Mannheim, so Damm. Eine Deichrückverlegung dort könne große Effekte haben für den gesamten Mittelrhein – »also für Leute, die selbst nichts machen können, weil sie den Fluss nicht verbreitern können. Die sind darauf angewiesen, dass der Oberlieger vernünftig und über seine eigenen Interessen hinaus handelt. Aber dieser Oberlieger-Unterlieger-Ausgleich ist oft nicht gegeben. Oder es spielt schlichtweg keine Rolle für den Oberlieger, welche Auswirkungen etwas für den Unterlieger hat. Das ist der föderale Egoismus.«
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Sachsen-Anhalt sei mit Projektplanungen im zweistelligen Bereich ganz vorne dabei, sagt Damm, aber die planenden Behörden seien oft zu zögerlich. »Der sehr populäre Partizipationsgedanke führt oftmals dazu, dass ein Projekt inhaltlich zu Tode partizipiert wird.« Auch er setzt weiterhin auf Kommunikation statt Entscheidungen »von oben herab« – aber nach Jahrzehnten unzulänglicher Fortschritte beim Klima- und Artenschutz müssten die Fragen anders gestellt werden. Zum Beispiel: »Was bräuchtet ihr denn, damit das Projekt möglich wird?« Dies erfordere die Bereitschaft, angemessene Kompensationen für die Landwirte zu zahlen, und koste möglicherweise mehr Geld, aber dafür erhalte man auch mehr Wert.
Zur Überwindung der Blockaden müssten die Synergien, die durch das Neu-Denken von Landschaft entstehen, besser vermarktet werden, fordert Damm. »Diese Kleinteiligkeit, bei der jeder für sich rummuckelt, ist auch volkswirtschaftlich sehr ineffizient. Gerade die Renaturierung von Auen bietet ganz große Möglichkeiten, weil es um das Thema Wasser geht, um das Thema Erholung, um landschaftliche Attraktivität.« Und natürlich auch um Klimaschutz.
Gemeinsame Projekte mit Anwohnern
Selbst im Vorzeigeprojekt Lenzen mussten – neben der Hochwasserkatastrophe 2002 – viele Faktoren zusammenkommen, damit das Projekt ins Rollen kam. »Eigentlich wussten schon die Altvorderen, dass die Deichlinie hier nicht optimal ist«, sagt Meike Kleinwächter vom Auenzentrum in Lenzen. Die Elbe prallte am sogenannten »Bösen Ort« im rechten Winkel auf den Deich, um sich kurz darauf von 1.200 Metern auf 450 Meter zu verengen – ein Rezept für Desaster.
Die Agrargenossenschaft, der die meisten Flächen gehörten, befürwortete die Deichrückverlegung. »Trotzdem gab es extrem viele Bedenken«, so Kleinwächter. Teilweise seien solche Sorgen berechtigt, beispielsweise könnten Überschwemmungen giftige Schwermetalle mit sich bringen. Altlasten machten eine landwirtschaftliche Nutzung dann schwierig bis unmöglich. »Dennoch überwiegen aus Sicht der Hochwasservorsorge und des Klima- und Naturschutzes klar die Vorteile von Deichrückverlegungen«, so Kleinwächter.
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Mit dem Thema Partizipation hat sie bis jetzt sehr gute Erfahrungen gemacht. Beim Folgeprojekt an der Hohen Garbe habe das Projektteam beispielsweise gemeinsam mit den Anwohnern eine Auentour-App entwickelt, wobei auch die Erinnerungskultur der Grenzregion mit aufgenommen wurde. »Das nimmt die Menschen mit ins Projekt und ist auch im Sinne der Verstetigung.«
Darüber hinaus sei immer darauf geachtet worden, den kritischen Stimmen einen Raum zu geben. Und vor allem: Wann immer etwas Neues zu besichtigen war, wurde zuerst die örtliche Bevölkerung eingeladen, noch vor Politikern und Presse. »Es ist illusorisch zu glauben, man könne jeden Kritiker überzeugen«, sagt sie. Aber die Sorgen der meisten Anwohner hätten sich im Lauf der Projekte aufgelöst.