»Individuelle Verantwortung ist nötiger denn je«
In seinem neuen Buch »Das System ist am Ende. Das Leben geht weiter« schreibt Meinhard Miegel über Verantwortung in Krisenzeiten – ein Thema, das in diesem Jahr aktueller denn je ist. Im Interview mit Online-Redakteurin Sonja Bonneß erklärt der oekom-Autor, wie Freiheitsrechte und individuelle Verantwortung in Zeiten von Corona zusammenhängen und warum es uns so schwer fällt, die Klimakrise ähnlich entschlossen zu bekämpfen wie eine Pandemie.
27.11.2020
Sonja Bonneß: Herr Miegel, Sie sind bekannt als scharfer Beobachter und Kritiker gesellschaftlicher Entwicklungen. In den letzten Monaten hat die Coronakrise einschneidende Veränderungen mit sich gebracht. Wie schätzen Sie die Reaktion der deutschen Gesellschaft auf diese Krisensituation ein?
Meinhard Miegel: Wenn Veränderungen, die mit der Corona-Pandemie einhergehen, in Deutschland und anderen Ländern als »einschneidend« empfunden werden, dann wohl vor allem deshalb, weil wir seit Generationen keine wirklich einschneidenden Veränderungen mehr erlebt haben. Im Grunde ging vieles seinen gewohnten Gang und es ging stets vorwärts und aufwärts. Jetzt ruckelt es ein wenig und die meisten verhalten sich völlig konform. Sie folgen den Vorgaben soweit sie sie einsehen und unterlaufen sie, wenn sie sie nicht einsehen. Von einem ernsthaften Krisenmodus sind wir weit entfernt. Der sähe anders aus.
Auf der einen Seite greift der Staat wie selten zuvor in die Freiheitsrechte der Bürger*innen ein, auf der anderen Seite ist immer wieder von individueller Verantwortung für sich und andere die Rede. Wie bewerten Sie diese teils widersprüchliche Situation?
Die Situation ist nicht widersprüchlich. Viel mehr sind Freiheitsrechte und individuelle Verantwortung zwei Seiten derselben Medaille: das Individuum als Teil einer Gruppe oder der Gesellschaft. Verschoben hat sich lediglich die Gewichtung von Freiheit und Verantwortung. Freiheitsrechte werden eingeschränkt, was aber nicht heißt, dass individuelle Verantwortung nötiger ist denn je.
Die Coronakrise kam plötzlich, der menschengemachte Klimawandel hingegen zeichnet sich schon lange ab, mit all seinen Konsequenzen. Warum fällt es den Menschen so schwer, Verantwortung zu übernehmen und nötige Veränderungen anzustoßen?
Menschen schmeicheln sich gerne mit der Vorstellung, sie seien zukunftsoffen und anpassungsfähig. In Wirklichkeit halten die meisten zäh an Überkommenem und Gewohntem fest. Sich wirklich zu ändern fällt den Menschen ungeheuer schwer. Das kann man schon in der Bibel nachlesen. Und umso schwerer fällt es ihnen, wenn das Gewohnte – trotz allen Jammerns – so viele Annehmlichkeiten bietet und Rücksichtnahme auf künftige Generationen mit Abstrichen für einen selbst einhergeht. Menschen sind eben zumeist nur dann altruistisch, wenn es ihnen nützt.
Das System ist am Ende, das Leben geht weiter – aber wie? Wie kann oder muss die Epoche aussehen, die jetzt folgt?
Die Epoche, die jetzt möglicherweise anbricht, wird sich nur wenig von der bisherigen unterscheiden. Sobald ein verlässlicher Impfstoff verfügbar ist, wird alles in Bewegung gesetzt werden, wie gewohnt weiterzumachen. Das ist die viel größere Tragödie als die derzeitige Pandemie. Die Menschen müssten nämlich zurückkehren zu den Tragfähigkeitsgrenzen der Erde. Und hiergegen sträuben sie sich mit Händen und Füßen. Das haben sie seit Beginn der Industrialisierung nicht mehr gelernt. Vielmehr sind sie angetreten, Grenzen zu durchbrechen. Das haben sie mit großem Erfolg getan. Den Scherbenhaufen, den sie dadurch angerichtet haben, wollten und wollen sie nicht sehen. Es ist immer noch nur eine Minderheit, der langsam dämmert, dass eine fundamentale Umorientierung unabdingbar ist.