Keimzellen für die Transformation
Das Thema Postwachstum wird aus einer Vielzahl an Blickwinkeln diskutiert, die alle Alternativen zu einer rein auf Wachstum fokussierten Wirtschaftsweise suchen. Ob Degrowth, Sharing Economy oder »grüne« Ökonomie – all diese Ansätze versuchen, gesellschaftliche Strukturen zu verändern und erfordern, dass der öffentliche Raum anders geplant und genutzt wird. Benedikt Schmid, Christian Schulz und Sabine Weck haben in der politischen ökologie eine Einführung in die verschiedenen Diskurse und in das Zusammenspiel von Raum und Postwachstum gegeben.
22.04.2020
Die Kritik am Modell des immerwährenden ökonomischen Wachstums ist in den vergangenen Jahren stärker in der Gesellschaft angekommen. Zum einen, weil die ökologischen und sozialen Auswirkungen des Klimawandels und die Erschöpfung natürlicher Ressourcen immer deutlicher spürbar und als Generationenfrage auf der Straße thematisiert werden. Zum anderen aber auch, weil zunehmende soziale Ungleichheit den Glauben an das Wohlfahrtsversprechen des kapitalistischen Wachstumsmodells erschüttert. In aktuellen Debatten über Klimawandel, Green (New) Deals und eine sozialökologische Transformation unterstreicht eine wachsende Zahl von Akteur(inn)en die Notwendigkeit einer konsequenten Abkehr von Wachstumszwängen. Postwachstums- oder Degrowth-Ansätze werden inzwischen intensiv und aus verschiedenen Blickwinkeln diskutiert: Alternative Produktions- und Konsummuster sind ebenso Thema wie Fragen nach neuen Arbeitszeitmodellen, Energieversorgung, lokaler Demokratie und Gemeinwohlorientierung, Steuer- und Investitionspolitik oder der Rolle von Sorgearbeit und Ehrenamt.
Weniger Beachtung fanden bisher die räumlichen Implikationen einer Postwachstumsorientierung. Damit sind keinesfalls nur die naheliegenden und plastischen Fragen nach der Eindämmung von Flächenverbrauch und Siedlungswachstum gemeint. Vielmehr geht es sowohl um die potenziellen räumlichen Auswirkungen von Postwachstumspolitiken als auch um die Ermöglichung postwachstumsorientierter Aktivitäten durch die Schaffung räumlicher Voraussetzungen. Welche veränderten Siedlungsformen, Gebäudetypen und Infrastrukturen sind nötig, um neue Formen kollaborativen Wirtschaftens zu ermöglichen oder neue Arbeitszeitmodelle zu praktizieren? Wie unterscheiden sich die Standortanforderungen von Postwachstumsunternehmen von jenen herkömmlicher Wirtschafts- und Organisationsformen? Welche Ansprüche an Städtebau und Infrastruktur verbinden sich mit einer nachhaltigkeitsorientierten Verkehrswende? Welche Effekte haben Re-Regionalisierungsbemühungen (z.B. der solidarischen Landwirtschaft) auf Waren-, Energie- und Finanzströme? Und welche Neubewertung erfahren öffentliche Räume in kollektiver Nutzung (z.B. Urban Gardening, Offene Werkstätten)? Zu diesen Fragen gibt es viele interessante Stimmen aus der raumwissenschaftlichen Forschung, aus dem Städtebau und der Raumplanung, aus Regionalpolitik und Wirtschaftswissenschaften.
Wachstum anders denken
In der aktuellen Debatte um Postwachstum lassen sich zwei grundlegende Diskurse unterscheiden, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich komplementär ergänzen können. Je nach Motivlage geht es entweder um die (natürlichen) Grenzen des Wachstums oder um die Erwünschtheit von Wachstum.
Die »grüne« Ökonomie, wie zuvor schon Ansätze der Nachhaltigen Entwicklung, erkennt soziale und ökologische Probleme an, sieht jedoch (weiteres) Wirtschaftswachstum als Teil der Lösung. Kernargument dieser Ansätze ist die Möglichkeit einer materiellen Entkopplung von Wachstum durch technologische Effizienzsteigerungen. Eine relative Entkopplung lässt sich dabei durchaus nachweisen, das heißt, die Abnahme der benötigten Ressourcen pro Einheit der Wirtschaftsleistung. Eine absolute Entkopplung, das heißt, ein gesamtwirtschaftlich sinkender Energie- und Materialverbrauch trotz Zunahme der Wirtschaftsleistung, ist jedoch nicht nur außer Sichtweite, sondern muss auch rechnerisch als sehr unwahrscheinlich gelten. (1)
Über die (Un-)Möglichkeiten einer absoluten Entkopplung hinaus wird danach gefragt, wie erstrebenswert weiteres Wirtschaftswachstum ist und für wen. Wachstum wird anhand des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemessen. Dieses Messinstrument spiegelt den Wohlstand oder Fortschritt einer Gesellschaft jedoch nur unzureichend wider. Denn das BIP erfasst zum einen nur die Produkte und Dienstleistungen, die als Waren gehandelt werden. Zum anderen differenziert es nicht nach dessen ökologischen Auswirkungen oder sozialem Nutzen. Darüber hinaus ist das BIP eine Durchschnittsgröße und ignoriert folglich die Ungleichverteilung von Wohlstand und Teilhabe.
Die politische Orientierung an der Steigerung einer Kenngröße, die nicht die Gesundheit sozialer und ökologischer Systeme, sondern nur deren in Geldwert messbaren Output erfasst, stellt der Postwachstumsansatz infrage. Ausgangspunkt ist das Faktum, dass die ressourcenintensive Lebensweise wohlhabender Bevölkerungsteile maßgeblich zulasten sozialer und ökologischer Verhältnisse an anderen Orten und in der Zukunft geht. Die Kosten dieser Lebensweise, wie die Müllentsorgung, der Treibhausgasausstoß oder die für die Produktion notwendige Arbeitsleistung, werden zum einen in die Zukunft ausgelagert, wie etwa durch den Klimawandel. Andererseits werden sie in andere Orte und Regionen verschoben, beispielsweise durch den Export von Müll oder das Outsourcing von gesundheits- und umweltschädlicher Produktion. Eine gerechte und zukunftsfähige Wirtschafts- und Gesellschaftsform hingegen muss verallgemeinerbar sein und darf »nicht auf Kosten anderer Menschen und der Natur in Gegenwart und Zukunft gehen«. (I.L.A. Kollektiv, Das Gute Leben für Alle)
Auf Basis dieser Kritikpunkte lassen sich drei Zieldimensionen von Postwachstum ausmachen: globale ökologische Gerechtigkeit, ein gutes Leben und Wachstumsunabhängigkeit. (3)
Globale ökologische Gerechtigkeit bedingt, dass eine Gesellschaft ihre Kosten nicht in Raum und Zeit auslagert. Postwachstum zielt in diesem Sinne nicht einseitig auf Schrumpfung ab, sondern auf den Rückbau sozial und ökologisch unverträglicher Bereiche bei gleichzeitigem Prosperieren fairer und nachhaltiger Praktiken, die sich gegebenenfalls auch außerhalb der formalen Wirtschaft bewegen.
Eine zweite Zieldimension ist ein basaler materieller und sozialer Wohlstand, der für alle Personen faktisch und nicht nur formal erreichbar ist. Die Bestimmung, was ein »Gutes Leben« ausmacht, kann nur über demokratische und selbstbestimmte Aushandlungsprozesse erfolgen. Grundlegend geht es dabei um eine radikale Umverteilung von Ressourcen und Wohlstand, die Bereitstellung einer zugänglichen und umfassenden Daseinsfürsorge sowie eine Neuaushandlung wirtschaftlicher Zielsetzungen.
Die genannten Veränderungen bedingen drittens, dass wirtschaftliche Institutionen und Infrastrukturen so ausgestaltet werden, dass sie wachstumsunabhängig sind. Insgesamt zielt Postwachstum damit auf nichts weniger ab als einen grundlegenden institutionellen Umbau, um soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Dieser Umbau umfasst eine Reihe von Konzepten und Werkzeugen, die Postwachstumsansätze in die Praxis umsetzen sollen. Dazu zählen beispielsweise alternative Wohlstandsindikatoren, Grund- und Maximaleinkommen, Arbeitszeitreduktion, Ressourcen-, Vermögens- und Erbschaftssteuern, Finanz- und Geldreformen, stärkere Partizipation, Regionalisierung der Wertschöpfung, freie Grundversorgung und genossenschaftliche Unternehmensformen. (4)
Von Coworking bis Urban Gardening
Es gibt explizit räumliche Fragestellungen, die vielseitige Bezüge zu den vorgenannten Aspekten herstellen. (Post-)Wachstum ist eng mit Raumfragen verknüpft und muss daher sowohl in den Raumwissenschaften als auch in räumlicher Planung und Entwicklung eine zentrale Stellung einnehmen. Dabei geht es nicht nur darum, den traditionellen Akteur(inn)en aus Politik und Planung die Möglichkeiten zivilgesellschaftlichen Engagements und sozialökologisch orientierter Organisationen und Unternehmen aufzuzeigen. Es geht vielmehr auch darum, Letztere in ihrer Arbeit zu unterstützen und Formate der Mitbestimmung so anzupassen, dass sie verbindlich in Entscheidungsprozesse eingebunden werden können. Wie sehen die neuen, transformativen Konzepte in Raumforschung und Planungspraxis aus? Eine erste Bilanz macht offene Fragen einer postwachstumsorientierten Raumentwicklung und mögliche Ansatzpunkte für eine Transformation sichtbar.
Neue Räume für transformative Praktiken
Die Zivilgesellschaft initiiert und organisiert viele der postwachstumsorientierten Projekte ohne Unterstützung von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Seite. Die Entstehung dieser transformativen Keimzellen ist mit einer konkreten Antwort auf eine Problemlage vor Ort verbunden, weil etwa gemeinschaftliches Arbeiten oder nachhaltigeres Produzieren von vielen als notwendig angesehen werden. Beispiele hierfür sind Coworking Spaces, Makerspaces, Sharing-Initiativen und Urban Gardening. Je nach Problemlage, Hauptakteur(inn)en und Motiven sind diese Projekte sehr unterschiedlich. Sie entstehen zwar an vielen Orten, lassen sich aber nicht unbedingt kopieren. Es stellt sich daher die Frage, wie aus diesen vielen kleineren Projekten eine größere Bewegung entstehen kann.
Die Skalierbarkeit von Projekten ist ein weiterer Diskussionspunkt. Damit sind die Möglichkeiten gemeint, lokale Projekte auf eine breitere Basis zu stellen, indem sie institutionalisiert und somit langfristig gesichert werden, auch andernorts initiiert und größer werden können. Um Phänomene jenseits ihrer lokalen Verwurzelung in einen übergeordneten Kontext zu stellen, gilt es, Übergänge und Kontinuen stärker zu bedenken und auf Hierarchien oder starre Ebenen wie lokal oder global zu verzichten. Bei der Skalierung von Postwachstumsinitiativen sind zudem neue Bewertungsmaßstäbe anzulegen, die qualitative Entwicklungen erfassen, reflexiven Elementen Zeit einräumen und Pluralität ermöglichen.
Impulse aus der Zivilgesellschaft – im Rahmen von konkreten Projekten – können dazu beitragen, etablierte Positionen, Haltungen und Argumentationsmuster in der räumlichen Planung, die noch vielfach einer marktgetriebenen Wachstumsorientiertung verhaftet sind, aufzubrechen. Beispielhaft dafür stehen auch Reallabore, in denen zukunftsfähige Lebensstile und Wirtschaftsformen in transdisziplinären Formaten ausgehandelt und ausprobiert werden. Neben sozialen Experimentierräumen braucht es auch Möglichkeitsräume im materiellen Sinn, die frei von unmittelbaren Verwertungsinteressen vielfältige Nutzungen ermöglichen. Nicht ohne Grund entstehen viele Projekte in Räumen, die aus der Verwertungslogik herausgefallen sind und nicht (mehr) genutzt werden. Viele Urban-Gardening-Projekte starten beispielsweise so. Aber auch für gemeinnützige Organisationen ist der Zugang zu Grund und Boden, Flächen und Räumlichkeiten wichtig, damit sie sich auch langfristig etablieren können. Um neue Räume für transformative Praktiken zu ermöglichen, wird es notwendig sein, nicht nachhaltige Strukturen auch gezielt rückzubauen.
Planung darf sich nicht starr auf festgeschriebene Umsetzungsziele konzentrieren. Der Prozess selbst – demokratisch, beteiligungsorientiert, nahräumlich – muss im Mittelpunkt der Planung stehen. Kleinkörnigkeit kann als neues Planungsprinzip gelten, um zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure einzubinden. Relokalisierung ist deshalb ein weiteres Stichwort. Damit ist gemeint, die planerische Konzeptentwicklung und die Abwägung von Interessen in die nahräumliche Sphäre zu bringen, in den Lebensraum von Menschen. Aushandlungsprozesse und Entscheidungen werden »lokalisiert«. Nutzen und Effekte, aber auch die Auswirkungen und Konsequenzen von Entscheidungen für Bewohner(innen) werden erlebbar. Damit ist nicht gemeint, eigennützige Lokalinteressen zu verfolgen: Das bewusste In-Beziehung-Setzen der lokalen Projekte und Praktiken zu den Auswirkungen andernorts ist selbstverständlicher Teil der lokalen Konzeptentwicklung in einer globalisierten Welt.
Zwischen Nachhaltigkeit und Kommerz
Mit gemeinschaftlich organisierten Nutzungsformen (z.B. Makerspaces) und einer Sharing Economy verknüpfen sich Hoffnungen auf ressourcenschonenderen Konsum, soziale Interaktion und partizipative Entscheidungsprozesse. Es besteht aber auch die Gefahr kommerzieller Vereinnahmung durch renditeorientierte Plattformen, die nur schwerlich mit dem Anspruch von Nachhaltigkeit und Teilhabe in Verbindung zu bringen sind. Neue Formen kooperativen Wirtschaftens bieten Potenziale für postwachstumsorientierte Entwicklung, doch kommt es auf ihre Ausrichtung und konkrete Ausformung an.
Postwachstum und Raumentwicklung bedingen folglich eine enge Verknüpfung unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Maßstabsebenen von lokal bis global. Alternative Konzepte, Methoden, Praktiken, Indikatoren und Institutionen müssen ins Blickfeld rücken, die mögliche Wege aus der Wachstumsabhängigkeit hin zu sozial gerechten und ökologisch nachhaltigen Formen von Raumentwicklung, Lebens- und Produktionsweisen aufzeigen. (5)
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