So gelingt Klimagerechtigkeit: 8 Bausteine für die sozial-ökologische Transformation
Das Thema Klimagerechtigkeit hält immer mehr Einzug in den politischen Diskurs – doch häufig fehlen konkrete Ansätze, wie man den Kampf gegen die Klimakrise gerechter und inklusiver gestalten kann. Hier setzen die Bausteine für Klimagerechtigkeit des Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. an und zeigen umsetzbare Schritte für einen sozial-ökologischen Transformationsprozess auf. Einen Überblick über die einzelnen Bausteine finden Sie im folgenden Auszug aus dem Buch »Bausteine für Klimagerechtigkeit« – der gesamte Text ist im Open Access verfügbar.
12.03.2024
Klimakrise, Artensterben, ein menschenverachtender Umgang mit Geflüchteten, Pandemie und Kriege – die letzten Jahre zeigen uns mehr als deutlich, was es heißt, in Zeiten multipler Krisen zu leben. Die Krisenpermanenz führt uns vor Augen, wie eng soziale und ökologische Herausforderungen zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen, und wie dringend es ganzheitliche Antworten braucht.
Viele dieser Zusammenhänge fließen im Begriff der Klima(un)gerechtigkeit zusammen. Ob steigende Preise für Lebensmittel und Energie, extreme Hitze, Dürren, Ernteausfälle oder Überschwemmungen: Die Folgen dieser Krisen treffen nicht alle Menschen gleich. Sie verschärfen soziale Ungleichheit und machen Umverteilung und einen fairen Umgang mit Ressourcen global und innerhalb von Gesellschaften noch wichtiger.
»Die reichsten Länder der Welt tragen historisch die größte Verantwortung für die Klimakrise.«
Wenn wir über die Klimakrise sprechen, ist oft zunächst von naturwissenschaftlichen Problemen die Rede. Treibhausgase erhitzen die Atmosphäre, Klimazonen verschieben sich, Ökosysteme können sich der schnellen Veränderung kaum anpassen, Spezies sterben aus, Extremwetterereignisse verwüsten Landschaften und Städte, Menschen sterben oder verlieren ihre Lebensgrundlage. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Die Menschheit muss ihren Ausstoß an Treibhausgasen drastisch reduzieren.
»Die Menschheit«? Sitzen wir alle im gleichen Boot?
Die reichsten Länder der Welt tragen historisch die größte Verantwortung für die Klimakrise. Auf der Liste der historischen Emissionen steht Deutschland auf Platz 4, obwohl heute mit 84 Mio. Menschen nur ca. 1% der Weltbevölkerung hier lebt. Länder des Globalen Nordens haben jahrhundertelang ihre Wirtschaft mit fossilen Energieträgern und unter Ausbeutung von Ressourcen betrieben. Besonders stark sind von dieser Ausbeutung Menschen und Natur in Ländern des Globalen Südens betroffen.
Abb. 1: Verantwortung für übermäßige Emissionen. |
Gleichzeitig leiden Länder des Globalen Südens stärker unter der Klimakrise. Obwohl sie weniger Verantwortung tragen, sind sie stärker betroffen und haben oftmals geringere Anpassungskapazitäten. Auf dieses Ungleichgewicht legt die Forderung nach Klimagerechtigkeit den Fokus. Klimagerechte Politik bedeutet also neben der Reduktion von Emissionen auch den aktiven Abbau (globaler) sozialer Ungleichheit und ausbeuterischer Wirtschaftsstrukturen.
Besonders wichtig ist die Rolle indigener Gesellschaften. UN-Berichte kommen zu dem Schluss, dass sich 80% aller Tier- und Pflanzenarten auf indigenen Territorien befinden, die ein Viertel der Landfläche der Erde ausmachen. Der Schutz indigener Landrechte ist also Kern von klimagerechter Politik. Indigene Gesellschaften, die für ihre Landrechte und für Biodiversität einstehen, werden daher oft als zentrale Kräfte der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung bezeichnet.
»Für Klimagerechtigkeit braucht es strukturelle Veränderungen«
In all diesen Krisen zeigt sich auch, wie anfällig, ungerecht und undemokratisch unser wachstumsbasiertes, profitorientiertes und globalisiertes Wirtschaftssystem ist. Statt guter und gerecht verteilter Gesundheitsversorgung, einer menschenrechtskonformen Aufnahme von Geflüchteten und sozialer Umverteilungspolitik erleben wir, wie mit Milliardenhilfen Airlines gerettet werden, Sprit subventioniert und in die fossile Rüstungsindustrie und LNG-Terminals investiert wird. Als Antwort auf die Klimakrise werden von Wirtschaftsverbänden grundsätzlich nur solche Lösungen propagiert, die neue Wachstumsmärkte in Aussicht stellen – selbst wenn es sich um bloße Scheinlösungen wie ein breiter Einsatz von E-Fuels, CO2-Ausgleichszertifikate oder eine überdimensionierte Wasserstoffindustrie handelt.
Für Klimagerechtigkeit braucht es aber strukturelle Veränderungen, denn Klimazerstörung ist eng mit der Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems verbunden. In der parlamentarischen Politik fehlen hierfür Konzepte und Umsetzungsperspektiven – und meist auch der Wille, diese voranzubringen.
Bausteine für mehr Klimagerechtigkeit
Die hier vorgestellten Bausteine für Klimagerechtigkeit sind der Versuch, eine Realpolitik jenseits von Wachstumszwängen zu entwickeln: Es geht um Maßnahmen, die sowohl für mehr Klimagerechtigkeit sorgen als auch die Lebensqualität der Menschen im Hier und Jetzt verbessern können und vermehrt Freiräume jenseits kapitalistischer Wachstumszwänge schaffen.
Und doch werden sie nur durchsetzbar sein, wenn eine kritische Masse an Menschen veränderte Vorstellungen vom guten Leben entwickelt. Autofreie Mobilität setzt zum Beispiel die Bereitschaft zur Abwendung vom Individualismus des Autoverkehrs voraus – und bietet dafür neben besserer Luft ein viel lebendigeres Stadtleben ohne ständige Unfallgefahr. Vergesellschafteter Wohnraum bricht mit dem Ideal des Wohneigentums als einziger Grundlage für ein sicheres Zuhause – und schafft stattdessen Sicherheit, die nicht anlebenslangen Leistungszwang zur Bedienung der Kredite gebunden ist, sondern auf gesellschaftlicher Solidarität gründet. Arbeitszeitverkürzung setzt auch bei weitgehendem Lohnausgleich voraus, dass Gewerkschaften ihre Verhandlungsmacht für freie Zeit statt für (absolut) mehr Lohn einsetzen – und so ihren Mitgliedern mehr Lebensqualität ermöglichen.
Je mehr sich diese Ansätze verbreiten, je größere Freiräume geschaffen werden, desto stärker werden wiederum die Alltagserfahrungen der Menschen verändert und damit auch geltende Normen vom guten Leben nachhaltig verschoben.
»Es geht darum, die Möglichkeiten und Grenzen einer umfassenden Klimagerechtigkeitspolitik im deutschen Kontext auszutesten.«
Auch darum sind diese politischen Maßnahmen als Einstiegsprojekte so wichtig: Sie bringen Klimagerechtigkeit in den Bereichen voran, in denen dies nicht primär »Verzicht« voraussetzt – der schließlich auch in manchen gesellschaftlichen Bereichen unvermeidbar sein wird – sondern unmittelbar oder mittelbar zu einer Verbesserung von Lebensqualität führt.
Das bedeutet nicht, dass nicht auch hier erhebliche Widerstände zu erwarten wären, doch diesen steht zumindest potentiell das Eigeninteresse eines größeren Anteils der Menschen an positiver Veränderung entgegen. Dieses gilt es, in politisches Handeln zu übersetzen. Es geht also auch darum, die Möglichkeiten und Grenzen einer umfassenden Klimagerechtigkeitspolitik im deutschen Kontext auszutesten.
Für all dies möchten wir mit den Bausteinen eine Grundlage und einen Orientierungspunkt bieten. Diese acht Bausteine stellen wir detailliert im Buch »Bausteine für Klimagerechtigkeit« vor:
Gerechte Wohnraumverteilung
Die Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland nimmt kontinuierlich zu, dadurch werden Energieeinsparungen durch bessere energetische Standards zunichte gemacht. Daneben besteht der Trend einer zunehmend ungleichen Verteilung von Wohnfläche in Deutschland. Derzeit gibt es keine wirkungsvollen politischen Maßnahmen, die zu einer bedürfnisorientierten und suffizienten Verteilung von Wohnraum führen. Das liegt auch daran, dass die Profitinteressen von Immobiliengesellschaften und Finanzwirtschaft dem entgegenstehen.
Wie dies durch eine Vergesellschaftung von Wohnraumverändert werden kann und welche Maßnahmen zur Reduzierung von Wohnfläche dann gemeinsam bedürfnisgerecht umgesetzt werden, zeigen wir im Kapitel »Gerechte Wohnraumverteilung«.
Autofreie Städte
Unsere Städte wurden für Autos gebaut – mit gravierenden Folgen für das Leben der Stadtbewohner*innen und -besucher*innen. Mit mehr Fokus auf die Menschen bei der Stadtgestaltung können wir Lebensqualität, saubere Luft, Platz für Begegnung, Sicherheit und mehr Klimagerechtigkeit gewinnen. Dazu müssen wir die Zahl der Autos in Städten drastisch reduzieren.
Doch dem stehen Machtinteressen der Autolobby und völlig veraltete Gesetze im Verkehrsrecht entgegen. Wie wir Deutschlands Städte trotzdem von Autos befreien können, haben wir im Kapitel »Autofreie Städte« anhand konkreter Maßnahmen aufgezeigt.
Energiepreise
Im Zuge der Energiepreissteigerungen haben wir versucht, transformative Wege aus der Krise aufzuzeigen, die ohne Schnellschussinvestitionen in neue fossile Energieinfrastrukturen wie LNG-Terminals auskommen. Im Mittelpunkt stehen progressive Tarifsysteme, in denen ein Grundrecht auf Energie für Haushalte über einen günstig zur Verfügung gestellten Grundbedarf verwirklicht wird. Zusätzlicher Energieverbrauch wird dagegen zunehmend teurer abgerechnet.
Zudem diskutieren wir im Kapitel »Energiepreise« andere kurz- und längerfristige Schritte an, wie die Verhinderung von Strom- und Gassperren, die Umverteilung von Krisenprofiten, die Drosselung nicht-lebensnotwendiger Industrieproduktion bei Engpässen sowie die Vergesellschaftung der Energieversorgung.
Arbeitszeitverkürzung
Kollektive Arbeitszeitverkürzung (AZV) auf 28h und eine 4-Tage-Woche ist ein zentrales Element einer sozial-ökologischen Transformation. Durchgeführt bei vollem Lohnausgleich und mit Personalausgleich ist sie ein essentieller Beitrag zu Umverteilung von Arbeit, Zeit und Einkommen. Die große Mehrheit der Bevölkerung würde von einer AZV profitieren, aber die Minderheit, die das nicht tut, hat mehr Macht.
Im Kapitel »Arbeitszeitverkürzung« zeigen wir, wie eine AZV ausgestaltet sein müsste, um den Menschen zu dienen, einen Schritt Richtung Klimagerechtigkeit zu leisten und wie sie umsetzbar wäre.
Gerechte Bodenpolitik
Landwirtschaftliche Böden in Deutschland sind sehr ungleich verteilt, außerlandwirtschaftliche Investoren und Großbetriebe nehmen zunehmend Einfluss auf den Bodenmarkt. Das lässt die Preise steigen und führt zur Konzentration von viel Fläche in den Händen weniger, profitorientierter Akteur*innen.
Gerechte Bodenpolitik hat zum Ziel, den Bodenmarkt zu demokratisieren, die Bodenvergabe nach sozialen und ökologischen Konzepten zu fördern und Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Im Mittelpunkt einergerechten Bodenpolitik stehen dabei Maßnahmen, die die Rechte kapitalstarker Akteur*innen begrenzen, eine stärkere Gemeinwohlorientierung unterstützen und dadurch den Weg in eine demokratische, vielfältige und zukunftsfähige Landwirtschaft ebnen.
Sozial-ökologische Steuerpolitik
Aktuell ist das deutsche und internationale Steuersystem durch zahlreiche umweltschädliche Subventionen, Steuerprivilegien für Superreiche sowie Ausnahmeregelungen und Schlupflöcher für große Konzerne ungerecht, klimaschädlich und demokratiegefährdend.
Durch sozial-ökologische Steuerreformen können Ungerechtigkeiten abgebaut sowie ökologische Lenkungswirkungen und umverteilende Effekte gefördert werden. Steuern sind die Haupteinnahmequelle, um den sozial-ökologischen Umbau in Deutschland zu finanzieren. Reiche und Unternehmen, die die Klimakrise im Besonderen verantworten, sollten stärker an den Kosten zu deren Bewältigung beteiligt werden.
Klimaschulden & Reparationen
Ein weiterer von uns geplanter Baustein hat bislang nicht zu einer Veröffentlichung geführt: Wir wollten uns darin im Sinne globaler Klimagerechtigkeit auch der Frage von Klimaschulden und Reparationen annehmen. »Klimaschulden« bezeichnet den Umstand, dass die frühindustrialisierten Länder ihren Wohlstand nicht nur über die Ausbeutung von Arbeitskraft und kolonialen Raub angehäuft haben, sondern eben auch über die Aneignung von Naturressourcen– etwa der Atmosphäre, in die über Jahrhunderte CO2 ausgestoßen wurde. Diese Möglichkeit besteht für Länder des Globalen Südens jetzt nicht mehr, ohne sämtliche Kipppunkte des Klimasystems zu überschreiten. Gleichzeitig sind es eben jene Länder, die die Folgen der Klimakrise bereits jetzt am härtesten zu spüren bekommen.
Als mehrheitlich weiße Organisation haben wir entschieden, zunächst keinen Baustein zum Thema zu veröffentlichen, sondern dies mittelfristig in Zusammenarbeit mit BIPoC innerhalb und außerhalb des Konzeptwerks zu tun. Unserem Teammitglied Oumarou Mfochivé sind wir dankbar, dass er für dieses Buch einen ersten Ausblick auf das Thema verfasst hat.
Grundeinkommen & soziale Garantien
Wir freuen uns außerdem, dass Ronald Blaschke und Werner Rätz sich vom Projekt inspiriert dazu entschieden haben, einen weiteren Baustein beizutragen: »Grundeinkommen & soziale Garantien«. Diese befördern soziale Gleichheit und bringen soziale Sicherheit für alle durch eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Sie ermöglichen demokratische Teilhabe, minimieren die Ängste vor den notwendigen Veränderungen und erhöhen die Bereitschaft für diese Veränderungen, die mit der sozial-ökologischen Transformation einhergehen müssen.
Soziale und Beteiligungsgerechtigkeit sind wesentliche Voraussetzungen für ein Gelingen der sozial-ökologischen Transformation – in jedem einzelnen Land und weltweit.