Suffizienz

»Wer darf sich wie viel nehmen, ohne ungerecht zu leben?«

Ausschweifender Konsum wird selten kritisch hinterfragt, sondern als selbstverständlich oder gar als Menschenrecht wahrgenommen. Das Resultat ist eine ökologische Katastrophe, die die Menschheit ernsthaft bedroht. Niko Paech und Manfred Folkers fordern dagegen eine »Kultur des Genug« – aus verschiedenen Perspektiven.

10.03.2020

»Wer darf sich wie viel nehmen, ohne ungerecht zu leben?« | Postwachstum Suffizienz

Wieso glauben Sie, dass wir eine Kultur des Genug brauchen?

Niko Paech: Für mich bedeutet Suffizienz die Reduktion oder Selbstbegrenzung menschlicher Ansprüche. Dahinter steht mehr als nur eine andere, radikalere Auffassung von Zukunftsfähigkeit. Suffizienz ist die Konsequenz aus dem grandiosen Scheitern einer ökologischen Modernisierung, zuweilen auch »grünes Wachstum« genannt. Die Technik scheitert darin, das Wohlstandsgefüge von ökologischen Schäden zu entkoppeln. Allein der Rückbau kann hier für Entlastung sorgen – das ist keine moralische, sondern eine mathematische Folgerung. Vielleicht stehen wir vor einem noch größeren Scheitern, nämlich dem des modernen Zeitalters. Suffizienz kann auch als Bruch mit einer Doktrin verstanden werden, die alles einem hyperaktiven Wachstumszwang unterwirft und besinnungslos menschliche Freiheiten zu steigern verspricht. Diese Fortschrittsdoktrin behauptet: Nichts darf bleiben, wie es ist, alles muss ständig verbessert oder intensiviert werden.

Wollen Sie die Menschen etwa an die Kette legen?

Paech: Natürlich nicht, aber der Modus einer expansiven Zwangsbeglückung stößt auf ökologische und psychische Grenzen. Und er wirft die Frage nach seiner Legitimität auf. Sind Menschen ausschließlich Nutznießer von Rechten und Freiheiten – oder haben sie auch Pflichten und Verantwortlichkeiten? Jedenfalls hat sich ein abstruses Missverhältnis zwischen diesen beiden Polen heraus gebildet. Es ist binnen Kurzem ein materielles Anspruchsniveau entstanden, das ich für skandalös halte. Wenn beliebig ruinöses Konsumieren zum Menschenrecht umdeklariert wird, verletzt das mein Gerechtigkeitsempfinden. Um es zuzuspitzen: Selbst junge Menschen, die noch nie gearbeitet haben, leben in Saus und Braus, Weltreisen inklusive, und halten dieses historisch einmalige Wohlstandsniveau für normal.

Herr Folkers, wie sind Sie auf das Thema Achtsamkeit gestoßen?

Manfred Folkers: 1995 habe ich den Verein »Achtsamkeit in Oldenburg« mitgegründet, das Interesse daran war damals sehr groß. Seitdem organisieren wir Veranstaltungen, um gemäß der Vereinsziele den interkulturellen Austausch zu fördern. Wir haben ein Forum für alle Menschen geschaffen, die Achtsamkeit üben und sich um ein friedvolles Leben bemühen – nach innen wie nach außen.

Ist Meditation nicht eher eine Flucht?

Folkers: Meditation ist kein Versuch, den Alltag auszublenden, sondern eine Methode, sich ihm bewusst zu stellen. Individuelle Probleme können von den natürlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht getrennt werden. Meditation ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, sondern ein für alle Menschen gangbarer Weg, sie besser zu verstehen. Wer sich eine meditative Auszeit nimmt, um sich in Ruhe dem gegenwärtigen Zustand des eigenen Lebens zu widmen, wendet sich im Grunde der Erde und der Zukunft zu.

Paech: Als ihr Hit »All you need is love« erschien, sind die Beatles nach Indien gereist, um sich in die Praxis der Meditation einführen zu lassen. Dein Vorschlag, ein Buch mit dem Titel »All you need is less« zu schreiben, hat mich komplett begeistert. Die Abwandlung »less« statt »love« gefällt mir. Der vor 50 Jahren von den Beatles vertonte Aufbruch zu »love and peace« hat damals nur den guten Umgang miteinander betont, nicht aber die materielle Seite des Lebens. Heute ist die das Hauptproblem: Wer darf sich mit welchem Recht wie viel nehmen, ohne ungerecht zu leben?

Folkers: Machst du mit dieser Betrachtung Suffizienz – im Sinne von Genügsamkeit – nicht zu einer reinen Pflichtübung? Für mich ist Suffizienz immer verbunden mit Einsicht und Integrität. Es geht um Lebenskunst und inneren Frieden, die um ihrer selbst willen erstrebenswert sind – unabhängig von Äußerlichkeiten.

Paech: Ich will Dir zwar nicht widersprechen, bleibe aber dabei, dass es bei der Rettung der menschlichen Zivilisation nicht um reines Wohlfühlen gehen kann. Die Verführungskraft der Konsumgesellschaft kann man nicht mit ihren eigenen Mitteln schlagen. Zivilisationen dürfen das Überlebensnotwendige nicht dem Lustprinzip unterordnen. Wenn sie jede Pflicht – auch die der materiellen Begrenzung – mit dem Verweis auf ständig zu steigernde Selbstverwirklichung ablehnen, sind sie nicht zukunftsfähig. Der grassierende Modus des Immer-mehr-wollen-und-immer-weniger-dafür-tun-Müssens entspricht einer dreisten Anmaßung, deren Legitimation in einer fragwürdigen Freiheitsideologie besteht.

Wollen Sie eine Ökodiktatur?

Paech: Um Himmels willen. Mir geht es um eine Kultur der Genügsamkeit, die vorgelebt, durch Beispiele und Initiativen vermittelt wird. Sie muss auch eingefordert werden – in einem herrschaftsfreien, demokratischen Diskurs.

Herrschaftsfrei? Wie stellen Sie sich das vor?

Paech: Je tiefgreifender der Wandel, desto unumgänglicher wird es, dass sich die betreffenden Neuerungen autonom im Wettstreit der Ideen und Orientierungen behaupten können, auch wenn das zunächst nur in Nischen erfolgt. So wird die Gesellschaft mit alternativen Lebensführungen konfrontiert, die sich dem Steigerungswahn verweigern, und zwar nicht nur symbolisch, sondern durch eine in allen Konsequenzen vorgelebte Missbilligung des desaströsen Istzustandes. Dieser Vorgang ist absolut herrschaftsfrei. Mehr noch: Pioniere, die gegen den Strom schwimmen, gehören zur Ursuppe jeder Demokratie. Umgekehrt sind politische Eingriffe niemals herrschaftsfrei, auch in einer Demokratie nicht.

Folkers: Du scheinst Suffizienz für eine private Angelegenheit zu halten, doch dieser Ansatz ist unzureichend. Auch die Politik sollte eingreifen. Wenn ich selbst in meinem Umfeld andere von Maßlosigkeit abhalten will, werde ich schnell der Bevormundung bezichtigt. Etwa wenn ich meine Seminargäste in ein Gespräch über die Absurdität ihres SUVs oder eine 48 Wochen im Jahr leer stehende Zweitwohnung verwickle …

Paech: Vielleicht ist ein konfrontatives Öko-Spießertum das letzte Mittel, das uns noch bleibt, wenn die politischen Instanzen handlungsunfähig sind … Nein, das ist natürlich Quatsch. Fürs Erste wäre schon viel gewonnen, wenn Suffizienz überhaupt diskussionswürdig wird.

Interessante Differenz. Herr Folkers, welche politische Rahmenbedingungen fordern Sie ein?

Folkers: Alle Menschen bewohnen diesen einen kleinen, aber feinen Planeten. Unsere wichtigste Aufgabe ist, das Leben auf ihm zu bewahren. Dafür wird eine Weltregierung benötigt, die von einem Parlament kontrolliert wird, in der die zufällig gerade jetzt lebenden Menschen nicht die Mehrheit stellen dürfen. Sowohl die Erde beziehungsweise ihre Biosphäre als auch die zukünftigen Generationen sollten mitvertreten werden – vielleicht jeweils zu einem Drittel. Zentrales Ziel dieser Regierung sollte es sein, den personenbezogenen ökologischen Fußabdruck auf ein Niveau zu bringen, das dem menschlichen Maß entspricht, also abhängig ist von der Quantität der Erdbevölkerung. Auf diese Weise kann der gegenwärtige Hyper-Individualismus überwunden und eine soziale Angleichung herbeigeführt werden. Sobald Gemeinwohl, Zusammenwirken und Offenherzigkeit in den Bereichen Eigentum, Arbeit und Konsum Vorrang erhalten, wird sich fast automatisch eine von Achtsamkeit und Enkeltauglichkeit geprägte Wirtschaftsform entwickeln. In meinem Essay möchte ich einige Überlegungen und Kraftquellen zusammenstellen, die diesen Prozess beflügeln können.

Herr Paech, warum halten Sie die Politik für handlungsunfähig?

Paech: Politische Regulierungen, ganz gleich ob Ver- und Gebote oder sogenannte Anreizsysteme, also eine Besteuerung schädlicher Handlungen, werden nur dann von demokratischen Mehrheiten akzeptiert, wenn bequeme und kostengünstige Alternativen angeboten werden. Dies entspricht keiner Reduktion des Wohlstandes, sondern lediglich dessen technologischer Entkopplung von ökologischen Schäden. Wenn sich Letzteres aber als unmöglich erweist, würde wirksame Regulierung nur in einer Wohlstandssenkung bestehen können. Dafür Mehrheiten zu bekommen entspricht einer Quadratur des Kreises: Die zu Regulierenden müssten einen Regulator wählen, der ihnen aufoktroyiert, wozu sie freiwillig nicht bereit sind.

Das gesamte Gespräch zwischen Niko Paech und Manfred Follkers sowie ihre beiden Essays zur »Kultur des Genug« lesen Sie im Buch!

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Zu den Autoren 

Manfred Folkers unterrichtet Taijiquan und Qigong und ist seit 25 Jahren Vorsitzender des Vereins »Achtsamkeit in Oldenburg«. Er ist Buchautor und seit 2009 Mitglied des Rates der Deutschen Buddhistischen Union. 2004 wurde er von Thich ...

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Prof. Dr. Niko Paech ist einer der profiliertesten Wachstumskritiker Europas und wurde mit seinem Buch »Befreiung vom Überfluss« (2012) zum führenden Vordenker der Postwachstumsökonomie im deutschsprachigen Raum.

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