Commoning als Resilienzstrategie: Frei, fair und lebendig
Neben Flexibilität braucht es in Zeiten umfassender Umbrüche auch die Wandlungsfähigkeit des Ganzen. Dabei gibt es nicht den einen, richtigen Weg. Wichtig ist vielmehr, dass die Menschen ihre Belange selbst in die Hand nehmen. Von Johannes Euler, Silke Helfrich und Annette Schlemm.
18.11.2021
In memoriam |
Wir befinden uns in einem Klimaumbruch und erleben unmittelbar, dass die durchschnittliche globale Temperaturerhöhung von mittlerweile 1,1 Grad Celsius unsere Umgebung nicht einfach nur wärmer macht. Wir beginnen zu erahnen, was es bedeutet, wenn die atmosphärischen und biosystemischen Stabilisierungsmechanismen schwächer werden oder kippen. In derart unsicheren Zeiten brauchen wir nicht nur resiliente ökosoziale Systeme, sondern auch ein resilienzfähiges Gesellschaftssystem. Mit technologischen Anpassungen allein wird es nicht getan sein. Es wird auch nicht genügen, das eine zu tun (z. B. 100 Prozent erneuerbare Energien) und das andere zu lassen (z. B. reduzierte Mobilität). Wir haben uns auf ein neues Normal einzustellen, auf das wir jedoch höchst unzureichend vorbereitet sind.
Resilienz besteht in der Fähigkeit eines Systems, Störungen zu absorbieren und sich so zu verändern, dass die wesentlichen Funktionen, Strukturen und Rückkopplungen erhalten bleiben. Als Beispiel dafür gilt gemeinhin der Bambus, der sich „mit dem Wind wiegt“, statt zu brechen. Tatsächlich ist Widerstandskraft durch Flexibilität gegenüber starken Umweltveränderungen ein Hauptmerkmal der Resilienz.
Was aber, wenn der Bambus bricht, wenn viele Funktionen, Strukturen und Rückkopplungen nicht mehr so existieren, wie wir sie kennen und erwarten? Schon jetzt gibt es Faktoren (Kipp-Elemente), die nach dem Überschreiten eines bestimmten Schwellenwertes in historisch sehr kurzer Zeit umkippen können. In der Westantarktis schmilzt das Eis in wichtigen Gebieten dreimal schneller als bisher befürchtet.
Für unser Wirtschaften bedeutet dies, dass neben der Anpassungsfähigkeit an veränderte Umweltbedingungen auch Wandlungsfähigkeit vonnöten ist. Sie zielt in letzter Konsequenz auf die Fähigkeit ab, ein qualitativ neues System zu schaffen, denn das gegenwärtige hindert die Wirtschaftsakteure gemeinhin wegen der erzwungenen Profitabilität (sprich Kapitalakkumulation) an einer (über-)lebensfähigen Wirtschaftsweise. Wir brauchen also neue Wechselbeziehungen zwischen der sich verändernden Mit-Welt und der eigenen Praxis. Und hier kommen die Commons (bzw. Allmenden) ins Spiel.
Praktiken für eine gemeinsame Welt
Die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom ist der Frage nachgegangen, „wie es den Menschen in [...] komplexen, unsicheren und interdependenten Milieus [...] gelungen ist, die Nachhaltigkeit und Robustheit ihrer AR [Allmenderessourcen; Anm. d. Verf.] zu bewahren“. [1] Ostrom zitiert Margaret McKean, der „noch keine Allmende begegnet ist, die unter ökologischer Zerstörung litt, solange sie noch eine Allmende war“. Als Beispiele werden die Schweizer und die japanischen Gebirgsallmenden aufgeführt, die trotz intensiver Nutzung in einem fragilen Milieu die Nutzungsbedingungen erhalten und sogar verbessern konnten.
Trotz des wegweisenden Charakters der empirisch gut belegten Forschungen wird der Ostromsche Ansatz kritisiert, weil er sich letztlich nicht aus einer individualistischen Perspektive befreien kann. In vielen aktuellen Beiträgen wird daher der Blick verstärkt auf die maßgeblichen sozialen Praktiken – das Commoning oder Gemeinschaffen – gerichtet. [2] Die Ostromschen Designprinzipien können zwar einen institutionellen Rahmen für funktionierendes Commoning beschreiben. Als direkte Handlungsanweisungen sind sie allerdings nicht gedacht, und noch weniger können sie im Bereich des Wirtschaftens Commoning fassen.
Silke Helfrich und David Bollier haben dies versucht und gehen dabei explizit von einem anderen Menschen- und Weltverständnis aus. Für sie sind Commons keine zu verwaltenden Ressourcen oder Dinge, sondern „lebendige soziale Strukturen, in denen Menschen ihre gemeinsamen Probleme in selbstorganisierter Art und Weise angehen“. [3] Dabei werden Individuen als nicht voneinander getrennte Vereinzelte vorausgesetzt, die rational entscheidend ihren individuellen Nutzen maximieren. Stattdessen ist sich das Ich-in-Bezogenheit seiner unentrinnbaren Abhängigkeiten und Wechsel- wirkungen bewusst. So gesehen setzt die eigene Entfaltung die Entfaltung der anderen voraus und umgekehrt. [4] Dieses Bezogensein schließt sowohl andere Menschen als auch die mehr-als-menschliche Welt ein.
Menschen können, wenn sie nicht durch Herrschaft, systemische Zwänge oder den Verlust ihrer Lebensgrundlagen daran gehindert werden, in Bezogenheit agieren. Die zentrale Frage lautet dann, wie sie gemeinsam agieren und Probleme lösen. Viele Probleme gleichen Typs tauchen bei der Gesellschaftsgestaltung genau wie in der Versorgung in Gegenseitigkeit und in allen anderen Bereichen immer wieder auf. Der Architekt Christopher Alexander entwickelte aus dieser Erkenntnis heraus das Konzept der Mustersprachen. Muster sind dabei bewährte Verfahren zur Lösung typischer Probleme, die bei gestalterischen Tätigkeiten in einem bestimmten Anwendungsgebiet auftreten. Der geschärfte Blick auf konkrete Vorgehensweisen hat zur Entwicklung einer ersten Mustersprache des Commoning geführt. [3] Darin sind 33 Muster versammelt, die ebenso wie die Forschungen von Elinor Ostrom Indizien für den Beitrag von Commoning zur Resilienz liefern.
Grundlegende Eigenschaften der Widerstandsfähigkeit
Zu den Eigenschaften, die Resilienz ermöglichen, gehören Diversität, Redundanz, Offenheit, Modularität, Feedbacks, Verschachtelung, Monitoring, und Vertrauen. [5] Diese Eigenschaften legen eine Systemidee nahe, die nicht geschlossen, kybernetisch und starr ist. Vielleicht ließe sich treffender von sozioökologischen Gefügen sprechen.
Interessanterweise zeigen sich in Gefügen, die wir mit Blick auf die Ostromschen Designprinzipien oder Muster des Commoning als Commons beschreiben, ähnliche Eigenschaften. Rebecca Solnit weist darauf hin, dass Menschen besonders in Katastrophen Initiative und Einfallsreichtum entwickeln, um gemeinsam Probleme zu bewältigen, Opfer zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass die Folgen nicht auf wenige abgeschoben werden. [6] Massimo De Angelis zählt Commoning zu den Praktiken, die Nachhaltigkeit und Resilienz erzeugen können, weil sie in der Lage sind, sich auch in krisenhaften Situationen selbst immer wieder neu hervorzubringen. [7] Die Tatsache, dass Menschen hier die Möglichkeit haben, selbstbestimmt gemeinsam nach Problemlösungen zu suchen und die Prozesse in ihre Hände zu nehmen, erzeugt die größtmögliche Resilienz.
Diversität
Ausgangspunkt des Gemeinschaffens ist nicht die Homogenisierung und Vereinheitlichung, sondern die Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt. Sowohl die Ressourcensysteme als auch die institutionellen Regelungen sind viel- fältig. Unterschiedliche Methoden des Sich-in-Vielfalt-gemeinsam-Ausrichtens helfen, in unterschiedlichen Situationen handlungsfähig zu sein. So können bestimmte Funktionen auf unterschiedliche Weise erfüllt werden (Reaktions-Diversität). Wenn einige Vorgehensweisen unter veränderten Bedingungen nicht mehr funktionieren, lässt sich mit vergleichsweise geringen Reibungsverlusten zu anderen übergehen (funktionale Diversität). Wie wichtig das ist, zeigt sich etwa daran, dass Saatgutvielfalt auf vielen verschiedenen Wegen erzeugt und erhalten werden muss, um mit sehr unterschiedlichen Umweltbedingungen zurechtzukommen.
Feedbacks
Die jeweiligen ökologischen und sozialen Zustände, die durch menschliches Wirken verändert werden, müssen immer wieder zur Grundlage neuer Entscheidungen und Vereinbarungen werden. Insbesondere auf Verhalten, das Regeln verletzt, ist zu reagieren. Die Ostromschen Designprinzipien weisen für diesen Fall explizit auf etwaige Sanktionen hin, obwohl sie nicht an staatliches Recht gebunden sind. Diese Sanktionen sind in abgestufter Weise einzusetzen und direkt vom konkreten Kontext abhängig zu machen. Bei den Mustern des Commoning heißt es: „Regelverstöße nachvollziehen & abgestuft sanktionieren.“
Monitoring
Voraussetzung für die Feedbacks ist das Monitoring über den Zustand von klimatischen, ökologischen und sozialen Gegebenheiten. Wichtig ist vor allem die Beachtung von sich nur langsam verändernden Faktoren wie die Phosphor-Anreicherung im Boden. Denn spätestens in Kombination mit einem Schockereignis wie einem Starkregen kann das zu abrupten Katastrophen, wie der Eutrophierung von Gewässern, führen. Ein möglichst lückenloses Monitoring (der Umwelt sowie der Regeleinhaltung) ist – theoretisch – auch in Commons-Strukturen möglich, zumal weder Geschäftsgeheimnisse noch politische oder ökonomische Interessen hier den Informations- und Kommunikationsfluss unterbrechen.
Offenheit
Commoning-Zusammenhänge sind nicht voneinander isoliert, es gibt stets Verbindungen und Anschlussmöglichkeiten nach außen. Wenn die Wege kurz sind, können sich wichtige Erfahrungen und Innovationen besonders schnell verbreiten. Die Stärke dieser Verbindungen ist vor allem für eine schnelle Erholung nach Krisen wesentlich. Gleichzeitig wird grundsätzliche Offenheit gebraucht, um auf nicht Vorhergesehenes reagieren zu können. Commons-Vereinigungen setzten vielfach auf Offenheit, sowohl was ihre Produkte (z. B. Open Source) als auch was ihre Gruppenmitglieder angeht. Ausnahmen beschreibt das Muster „Commons mit halbdurchlässigen Membranen umgeben“.
Modularität
Da Commoning-Prozesse zugleich funktional geschlossen und mit anderen verbunden sind, lässt sich jeder Prozess als ein Modul in einem modularen Netzwerk betrachten. Die relative Begrenzung der Module gegeneinander sichert bei aller Offenheit auch ab, dass bestimmte Schadwirkungen nicht einfach weiterverbreitet werden. Dies erhöht die Resilienz des Gesamtnetzwerks.
Verschachtelung
Auf jeder Ebene – vom Lokalen bis hin zum Globalen – können einzelne Commons-Vereinigungen Verbünde bilden, die sich speziellen Aufgaben widmen. Diese Verbünde können ihrerseits Verbindungen mit anderen Verbünden eingehen – auf horizontaler Ebene und zwischen den Ebenen. Die so entstehende Struktur nennt man verschachtelt oder, als Organisationsstruktur gedacht, auch polyzentrisch. Dadurch lassen sich Problemlösungen und Reaktionen auf Krisen so skalieren, dass sie jeweils der sachlichen Problemlage angemessen sind und sich gegenseitig sichern.
Vertrauen
Je mehr Commons-Vereinigungen über längere Zeiträume miteinan- der interagieren, desto mehr Vertrauen kann im Miteinander in und zwischen den Gruppen entstehen. Dadurch erfahren Entscheidungen, die etwa zugunsten mit-menschlicher Naturbedingungen bestimmte Konsumwünsche infrage stellen oder die einen Mehraufwand erfordern, eine höhere Akzeptanz. Die Vertrauensfrage stellt sich in Kontexten, in denen viele Menschen nicht nur jahrelang vertraut miteinander interagieren, sondern ihre Standorte oft wechseln (müssen), immer wieder neu. Sie ist ein Ergebnis gelingenden Commonings.
Gemeinsam resilienter in die Zukunft
Commoning-Strukturen sind divers, verschachtelt, offen, basieren auf Feedbacks und Monitoring und sind vertrauensfördernd. Commoning ist somit doppelt resilienzfördernd: einerseits unmittelbar reaktionsfähig und andererseits ein Beitrag zur Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen für Resilienz. So verbessert jede einzelne Solidarische Landwirtschaft (SoLawi) den Boden, erhöht dessen CO2-Speicherkapazität und demokratisiert die Lebensmittelproduktion, ohne sich zu verselbstständigen, weil sie immer in konkrete Governance-Strukturen eingebettet bleibt.
Je verschränkter Praktiken des Gemeinschaffens sind, umso resilienter sind sie, und umso unabhängiger von Markt und Staat. Dadurch können nicht nur Störungen absorbiert, sondern auch zentrale Funktionen erhalten beziehungsweise ersetzt werden: Wer sein Gemüse von der SoLawi bezieht, muss es nicht im Supermarkt kaufen, was wiederum zur Veränderung der Umgebung führt.
Natürlich wird der (Macht-)Kampf um resiliente ökosoziale Systeme und ein resilienzfähiges Gesellschaftssystem auch auf der Straße, in sozialen Kämpfen oder bei Wahlen ausgetragen. Commoning sollte in all diesen Auseinandersetzungen eine Rolle spielen, weil es das, was nach der Transformation kommt, klar in den Blick nimmt.
So gesehen sind Commons komplexe transformative Gefüge, die mehr können, als im Anpassungsmodus zu verharren. Sie können die Bedingungen dafür schaffen, dass wir nicht dieselben Systemfehler immer wieder produzieren. Sie ermöglichen letztlich eine Wirtschaft, die sich auch in einer durch Klimaumbrüche geprägten Welt des Mangels langfristig an die klimatischen und ökosystemischen Dynamiken anpasst – in Frieden und bei fairer Verteilung des Nutzens. Commoning ermöglicht ein würdevolles Leben für alle und schon allein dafür lohnt es sich, dafür einzustehen.
Anmerkungen
Für Ihre Anregungen danken wir allen Workshop-Teilnehmer*innen der Commoning-Sommerschule im Juni 2021 in Bechstedt.
1 Ostrom, E. (1999): Die Verfassung der Allmende. Tübingen.
2 Euler, J. (2020): Wasser als Gemeinsames: Potenziale und Probleme von Commoning bei Konflikten der Wasserbewirtschaftung. Bielefeld.
3 Helfrich, S. / Bollier, D. (2019): Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons. Bielefeld.
4 Schlemm, Annette (2006): Selbstentfaltungsgesellschaft als konkrete Utopie. Osnabrück.
5 Carpenter, S. R. / Arrow, Kenneth J. / Barrett, Scott et al. (2012): General resilience to cope with extreme events. In: Sustainability 4, S. 3248-3259.
6 Solnit, R. (2009): A Paradise Built in Hell: The Extraordinary Communities That Arise in Disaster. London.
7 De Angelis, M. (2017): Omnia Sunt Communia. On the Commons and the Transformation to Postcapitalism. London.