Interview

Ein Gespräch mit Paul J. Crutzen: »Ich möchte dazu beitragen, dass es keine Scheinlösungen gibt«

Der oekom verlag trauert um seinen Autor Paul J. Crutzen, der am 28. Januar 2021 im Alter von 87 Jahren verstorben ist. Der Nobelpreisträger war ein Pionier der Atmosphärenchemie, ein Vordenker der Erdsystemforschung, ein weitblickender Wissenschaftler und verantwortungsbewusster Mahner. Im Gedenken an ihn, veröffentlichen wir einen Interview aus seinem 2019 erschienenen Buch »Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter« – ein Gespräch mit Michael Müller.

01.02.2021

Ein Gespräch mit Paul J. Crutzen: »Ich möchte dazu beitragen, dass es keine Scheinlösungen gibt« | Anthropozän Wissenschaft Klimawandel Politik

Besuch im Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz: Obwohl Paul J. Crutzen seit 2000 in Ruhestand ist, hat er weiter sein Büro in der vierten Etage. Der Niederländer gehört zu den renommiertesten Naturwissenschaftlern der Welt. Er war zwischen 2001 und 2004 der weltweit meistzitierte Geowissenschaftler. Nach ihm wurde sogar ein Asteroid benannt. Crutzen ist der erste Nobelpreisträger, der für Umweltforschung ausgezeichnet wurde.

Crutzen ist ein Grundlagenforscher, der sich zu keiner Zeit in den Elfenbeinturm der Wissenschaft zurückgezogen hat. Er sieht seine gesellschaftliche Verantwortung als Aufklärer und Forscher. Mit seinem Anthropozän-Konzept hat er die geowissenschaftliche Debatte wie kein anderer Naturwissenschaftler vorangebracht. Auch deshalb wurde er mit mehr als 20 Ehrendoktorwürden ausgezeichnet.

Sie haben im Jahr 2000 vorgeschlagen, die heutige Erdepoche Anthropozän zu nennen. Was ist heute Ihr Fazit?

Paul J. Crutzen: Deutlich festzustellen ist, dass in den letzten rund 60 Jahren tief greifende Veränderungen auf unserem Planeten stattgefunden haben, die in einem engen Zusammenhang mit den Veränderungen der globalen Wirtschaftsprozesse stehen. Dennoch habe ich Zweifel, ob die Gesellschaft schon so weit ist, das Anthropozän als geoökologischen Fakt anzuerkennen. Die Debatte findet fast nur unter Naturwissenschaftlern und Umweltexperten statt, sie findet noch viel zu wenig Beachtung in der Politik und Gesellschaft. Auch bei den Sozial- und Geisteswissenschaftlern muss sich noch viel tun. Das Thema wird noch zu wenig diskutiert und zu wenig bearbeitet. Für die meisten ist das Anthropozän ein unbekanntes, fremdes Thema, manchmal wird es auch missverstanden. Ich sehe die Debatte als eine Chance, zu der ökologischen Neuorientierung zu kommen, die dringend erforderlich ist.

Was verstehen Sie unter Anthropozän?

Ich finde den Begriff überzeugend, er bildet gleichsam das Dach für die geowissenschaftliche Forschung. Dennoch ist die Frage nicht einfach zu beantworten. Das Anthropozän beschreibt eine industriegesellschaftlich induzierte Erdepoche, die ich zusammen mit anderen Wissenschaftlern in drei Perioden eingeteilt habe. Zuerst die, die mit der Industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts eingeleitet wurde, also die Frühphase.

Dann die enorme Beschleunigung des industriellen Prozesses mit allen räumlichen, organisatorischen und sozial-kulturellen Auswirkungen durch die Great Acceleration nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist die Phase der großen Dominanz der Industriestaaten des Nordens.

Lesetipp: »Das Anthropozän. Schlüsseltexte des Nobelpreisträgers für das neue Erdzeitalter«

Und schließlich die dritte Phase, die heute beginnt und in der wir ein reflexives Verständnis für die wirtschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklung brauchen, geleitet von ethischen Prinzipien und einer verbindlichen Governance. Auch wenn wir davon noch weit entfernt sind, möglich ist eine solche Wende immer noch. Die Debatte über das Anthropozän eröffnet die Chance dafür.

Was hat sich bisher getan?

Es hat sich schon einiges getan. Am Anfang fand unser Vorschlag wenig Beachtung, aber die Fakten globaler Umweltgefahren lassen sich nicht ignorieren und schon gar nicht leugnen. Ein wichtiger Durchbruch war, dass auf dem 35. Weltkongress der Geologen im September 2016 das Konzept von der zuständigen Arbeitsgruppe zur Annahme empfohlen wurde. Das war nicht einfach, denn beim Anthropozän geht es nach geologischen Maßstäben um eine noch sehr kurze Epoche, während die Geologie bisher rückschauend große Zeitabschnitte bewertet und eingeordnet hat.

Dennoch hat die Debatte an Fahrt aufgenommen.

Das Anthropozän ist ein Begriff, der sowohl die Menschen als Verursacher der Naturzerstörung beschreibt als auch ihnen eine neue Qualität von Verantwortung abverlangt. Auch wenn der Umgang mit dem Anthropozän eine globale Verantwortung erfordert, gibt es dennoch Unterschiede, denn die Eingriffe in die Natur wie auch die Belastungen der ökologischen Kreisläufe sind von Land zu Land, von Kommune zu Kommune ungleich verteilt, ebenso zwischen den sozialen Schichten. Zwar sind alle Gesellschaften auf ein möglichst hohes Wachstum ausgerichtet, aber die Gesellschaften wie auch die einzelnen Menschen verursachen die Umweltzerstörungen nicht gleichermaßen. Das belegen auch die Berechnungen des ökologischen Fußabdrucks.

Dennoch betrifft das Anthropozän alle Menschen. Auf Dauer sowieso, aber auch schon heute, entweder direkt in ökologisch sensiblen Erdregionen oder durch die Folgen, zum Beispiel die umweltbedingte Migration.

Warum greift die Politik, die doch ständig die Herausforderungen der Globalisierung beschwört, diese Debatte nicht auf? Glauben Sie, dass sie überfordert und nicht auf der Höhe der Zeit ist?

Ich denke, es gibt dafür eine Kombination mehrerer Faktoren. Es gibt in dieser Frage viel zu wenig Kooperation in und zwischen Politik und Wissenschaft. Dadurch wird der Widerspruch zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und den Konsequenzen, die daraus gezogen werden müssten, größer.

Der Vorschlag zum Anthropozän kam im Jahr 2000 unabhängig voneinander von Eugene F. Stoermer und mir. Ich habe ihm sofort geschrieben, dass ich den Vorschlag gut finde und er mit diesem Vorschlag nicht allein steht. Bekannter wurde die Idee zwei Jahre später durch meinen Aufsatz in Nature. Die Debatte entwickelte sich anfangs nur langsam. Das hat mich enttäuscht. Damals gab es nur einige Artikel in unterschiedlichen Fachzeitschriften. Obwohl der Vorschlag auch in den Gremien der Vereinten Nationen aufgegriffen wurde, geschah das nicht systematisch.

Mehr lesen: Nachruf – In Erinnerung an Paul J. Crutzen

Ich bin froh, dass sich das geändert hat. Es ist sehr gut, dass immer mehr über das Thema geredet wird. Allerdings darf das Anthropozän auch nicht zerredet werden. Es ist kein modischer Begriff, der beliebig genutzt werden kann. Ich sehe darin den Anstoß für eine intensive Debatte über den Zustand des Erdsystems. Sie muss in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen geführt werden, die dafür eng kooperieren müssen. Und das muss natürlich in allen gesellschaftlichen Kreisen viel bekannter gemacht werden.

Was war für Sie der Auslöser für ihren Vorschlag?

Natürlich in erster Linie der Klimawandel, aber auch generell der Einfluss des Menschen auf die Umwelt. Mir geht es um die Wirkungen der verschiedenen Prozesse, die auf den Menschen zurückgehen, auf das Erdsystem. Darauf bauen auch die Arbeiten der Kommission unter der Leitung von Johan Rockström und Will Steffen auf, die die planetarischen Grenzen untersucht haben.

Das Aufzeigen der Planetary Boundaries ist vielleicht das bisher wichtigste Ergebnis der Erdsystemforschung. Darin liegt der Schlüssel für ein tiefer gehendes Verständnis der Umweltprobleme und – wie ich hoffe – für ein Umdenken.

Viele besorgniserregende ökologische Fakten sind bekannt, dennoch verschlechtert sich der Zustand der globalen Umwelt.

Die Feststellung ist richtig. Über den anthropogenen Klimawandel wissen wir sehr viel, die Fakten sind eindeutig. Die Kenntnisse haben sich in den vergangenen 20 Jahren immer mehr verdichtet. Dennoch nehmen die Treibhausgasemissionen weiter zu und werden in der Atmosphäre abgelagert. Seit dem Erdgipfel von 1992 haben sich die globalen CO2-Emissionen nahezu verdoppelt. Dabei wissen alle: Ein Weiter-so kann es nicht geben und eine Politik, die nur nationale Interessen und kurzfristiges Wirtschaftswachstum sieht, darf es nicht geben.

Das Anthropozän fordert uns heraus. Aber je mehr sich die Lage zuspitzt, also klar wird, wie groß die Aufgabe ist, desto schwerer wird es sein, den Umbau zu organisieren. Wirtschaftliche Interessen und Angst vor Verlust und Abstieg werden ihn erschweren. So erleben wir den Widerspruch, dass die Ökologie zwar allgemein akzeptiert ist, dennoch der Umbau von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft kaum vorankommt.

Der Aufstieg der europäischen Moderne baut auf Aufklärung und Vernunft auf. Warum wird so wenig auf die kritische Naturwissenschaft gehört?

Es wird schon auf die Wissenschaft gehört, der Klimawandel ist heute ein wichtiges Thema in den Gesellschaften, das gehört zur Konvention der politischen und öffentlichen Debatte. Aber sie bleibt weitgehend folgenlos, vor allem weil die Erderwärmung ein radikales Umdenken verlangt.

Auch die Journalisten gehen bei dem Thema oftmals nicht in die Tiefe. Und sie haben meist nicht die Zeit, sich intensiver mit den wissenschaftlichen Fakten und den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zu beschäftigen. Guten Recherchejournalismus gibt es wenig.

Im Dezember 2015 fand in Paris die jährliche UN-Klimakoferenz statt, auf der der Anschlussvertrag des Kyoto-Protokolls ab dem Jahr 2020 beschlossen wurde. Wie bewerten Sie das Abkommen?

Mehr war nicht zu erwarten. Das Ziel, den Klimawandel möglichst auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, ist richtig. Aber die Verwirklichung bleibt unklar, vieles im Pariser Vertrag muss geklärt werden. Ich bleibe skeptisch, aber es muss zu einem Durchbruch kommen. Hinzu kommt die Entwicklung in wichtigen Ländern wie den USA oder Brasilien, wo der Klimaschutz abgelehnt wird.

Seit eine öffentliche Debatte über den Klimawandel geführt wird, haben sich die Gegenkräfte formiert. Wir brauchen aber Pioniere und Vorreiter für einen wirksamen Klimaschutz.

Deutschland könnte ein Vorreiter sein, noch besser die Europäische Union. Das wäre etwas, das uns Hoffnung machen würde. Europa könnte stolz darauf sein, den Klimaschutz voranzubringen. Aber der Widerstand ist vor allem in den osteuropäischen Ländern groß. Dort heißt es oft, wir können uns das finanziell und wirtschaftlich nicht leisten. Dabei wird eine Verlängerung des heutigen Zustands künftigen Generationen viel teurer kommen. Wenn man logisch denkt, kann man nur zu einem Ergebnis kommen: Wir müssen schnell handeln.

Woher kommt der stärkste Widerstand?

Das sind Trägheit, Ignoranz und natürlich wirtschaftliche Interessen, insgesamt von allem etwas. Von den sogenannten Klimaskeptikern will ich dabei gar nicht reden. Natürlich müssen wir in den wissenschaftlichen Fakten genau sein, aber das ist der Weltklimarat IPCC auch. Die Erarbeitung der Sachstandsberichte des IPCC ist jedenfalls ein breiter und transparenter Prozess.

Wir sind jedoch fest verankert in wirtschaftliche und gesellschaftliche Gegebenheiten, die den heutigen Zustand nicht verändern wollen. Vieles wird nur kurzfristig gesehen, wobei der ökonomische Vorteil entscheidet. Dagegen ist es schwer, das ökologisch Notwendige auch durchzusetzen. Das erfordert einen grundlegend neuen und anderen Weg. Dabei wäre es eine große Chance, wenn wir unsere Kräfte auf ein ökologisch nachhaltiges Management in Wirtschaft und Gesellschaft konzentrierten.

Das Verbot der FCKW und Halone zum Schutz der Ozonschicht ist doch ein positives Beispiel.

Das ist richtig. Es war lebenswichtig, den Ozonabbau zu stoppen. Da wurde in der letzten Minute die Bremse gezogen. Doch im Vergleich zum Klimawandel ist das noch ein einfaches und überschaubares Thema. Am Klimawandel sind alle tagtäglich beteiligt. Er betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche, auch Grundfragen von Konsum, Technik und Wirtschaftsordnung. Zudem ist der Widerstand gegen den Umbau ungleich größer.

Meine Schlussfolgerung heißt: Wir müssen Strategien finden, in denen Klimaschutz, mehr Gerechtigkeit und wirtschaftliche Innovationen Hand in Hand gehen. Vor allem muss der Umbau sozial gerecht sein.

Gibt es Versäumnisse der Wissenschaft? Was muss sie tun?

Wir brauchen die engere Zusammenarbeit zwischen Natur- und Sozialwissenschaften. Leider gibt es bei den Naturwissenschaftlern zu wenige, die sich für die Sozialwissenschaft interessieren. Und häufig dominieren ökonomische Interessen oder andere zentrale Fragen wie das Bevölkerungswachstum werden oberflächlich oder angstbeladen mit in den Topf geworfen. Aber ohne die Zusammenhänge zu verstehen, kommen wir nicht voran.

Ich bedauere, dass die Ökologie zwar in aller Munde ist, aber vor allem in der Politik nicht die Bedeutung hat, die ihr gebührt. Dabei ist sie der Schlüssel für die Lösung grundlegender Probleme. Das erfordert, längerfristig zu denken, Kreisläufe zu beachten, ein Gleichgewicht zu bewahren, kurz: verantwortungsvoll mit unserer Erde umzugehen.

Was bedeutet das für die Wissenschaft?

Es wäre gut, wenn die Wissenschaft, auch die Max-Planck-Gesellschaft, ihr großes wissenschaftliches Potenzial dafür nutzt zu klären, wie eine ökologisch verträgliche Wirtschaft und Gesellschaft aussehen können. Das Anthropozän erfordert einen kognitiven Wandel, damit wir uns der Bedeutung einer globalen Zivilisation bewusst werden. Für viele Wissenschaftler ist es schwer, über die reine Wissenschaft hinauszudenken. Wir Wissenschaftler müssen aber zu einer engeren Verbindung von Natur- und Sozialwissenschaft kommen.

Das haben Sie in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit immer gemacht. Bei der Beschäftigung mit den Folgen des Atomkrieges, dem Abbau der Ozonschicht, dem Klimawandel oder dem Anthropozän.

Danke. Das wollte ich auch. Mein Verständnis von Wissenschaft fragt auch nach der Verantwortung des Menschen. Als ich an der Universität in Stockholm anfing, beschäftigte ich mich mit der Atmosphärenchemie, dann auch mit den Fragen des stratosphärischen Ozons und der Erderwärmung. Ich hörte oft: Dagegen können wir wenig machen, wir sind den Naturkräften ausgeliefert, wir sind viel zu klein. Das sagt heute keiner mehr. Aber das hat 50 Jahre gedauert.

Heute besteht die Gefahr, dass die Menschen künftig über den Klimawandel sagen werden, die Wissenschaftler haben recht gehabt, aber wir haben nicht rechtzeitig reagiert. Beim Klimawandel ist das besonders problematisch, weil die Menschen anscheinend erst reagieren, wenn sie die Folgen schmerzlich spüren. Dann ist es aber beim Klimawandel zu spät.

Bei dieser globalen Herausforderung dürfen wir eine egoistische Interessenpolitik nicht zulassen, zumal für die nächste Zeit die Hauptverursacher nicht die Hauptbetroffenen sein werden. So trägt der afrikanische Kontinent wenig zum Klimawandel bei, ist aber besonders stark von den Folgen betroffen – durch die Ausbreitung der Wüsten, mehr Trockenheit und die Verschlechterung der Landwirtschaft.

Was halten Sie von technischen Lösungen wie CCS oder Fracking?

Ich werde oft nach technischen Möglichkeiten gefragt, die ich selbst als »Plan B« für den Fall beschrieben habe, dass es nicht zu dem notwendigen Schutz des Klimas kommt. Das wird auch falsch verstanden, denn natürlich will ich zuerst Vernunft und Umdenken.

Dennoch muss ich auch die Frage stellen, warum es trotz besseren Wissens zu Nichtstun, Abwarten und damit zu einem Versagen kommt. Warum wird das Notwendige nicht getan? Bei der Erderwärmung wissen wir seit Jahrzehnten, was zu tun wäre, aber die Treibhausgasemissionen gehen nicht zurück. Im Gegenteil.

Der Mensch verlagert die Probleme immer wieder, statt sie wirklich zu lösen. Vielleicht verstärkt er sie längerfristig sogar. Ich möchte dazu beitragen, dass es keine Scheinlösungen gibt. Alles andere wäre unverbesserlich und falsch.

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