Hundert Prozent Bio weltweit
Ist eine Landwirtschaft, die hundertprozentig biologisch arbeitet, eine Idee von wenigen Spinnern oder eine Vision, die bereits greifbar ist? Ökologie & Landbau-Autor Bernward Geier ist sich sicher: »100 % Bio« muss und wird kommen. Es gehe allein um das Wie.
21.02.2020
Vision heißt im Lateinischen nicht Utopie oder gar Halluzination, sondern Sehen. Nur wenige können heute eine Welt sehen, in der es ausschließlich biologische Landwirtschaft gibt, daher halten es viele Menschen für nicht machbar, sondern für gaga. Für die Ambition einer »100 % Bio«-Vision bedarf es einer Diversität an regional angepassten Strategien, viel Arbeit und vor allem auch Etappenziele.
Etappenziel »100 % pestizidfrei
Das wichtigste Ziel auf dem Weg zu mehr Bio ist daher ein weltweites Verbot von toxischen beziehungsweise chemisch-synthetischen Pestiziden. Dieses Ziel hat die indische Ökoaktivistin Vandana Shiva zunächst für das Jahr 2050 postuliert, musste es jedoch aufgrund der Dynamik der Klimakatastrophe und des Artensterbens auf das Jahr 2030 korrigieren. Der merklich reduzierte Zeithorizont für eine pestizidfreie Welt ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern schwer vorstellbar.
Es gibt aber zunehmend Indikatoren, dass eine Landwirtschaft ohne Pestizide machbar ist. So zeigt eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) in der Schweiz, dass ein komplettes Verbot für chemische Pestizide machbar wäre (Tamm, 2019). Dabei wären jedoch einige Maßnahmen in den Industrieländern unabdingbar, wie etwa ein Stopp ihrer hohen Futtermittelimporte und die Reduzierung des Fleischkonsums.
In der Schweiz läuft außerdem eine Initiative für eine Volksabstimmung zum Pestizidverbot. Der Widerstand gegen Pestizide, deren Gefährlichkeit mittlerweile durch schier unendlich viele wissenschaftliche Studien belegt ist, wächst rasant und überall. In nur ein paar Wochen schaffte es beispielsweise eine europäische Bürgerinitiative, für ein Glyphosat-Verbot deutlich mehr als die notwendige eine Million Unterschriften zusammenzubekommen (Campact, 2019).
Aktuell läuft eine noch wesentlich weiter gehende europäische Bürgerinitiative unter dem Titel »Rettet die Bienen und Bauern«, die als erste Zielsetzung von der EU fordert, den Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide bis 2035 zu beenden (beesfarmers.armada.digital/de/). Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel, um das agro-chemische Landwirtschaftssystem zu kippen. Dass Kipppunkte durchaus positiv sein können, zeigen historische Beispiele wie der rasante Kollaps des sogenannten Sozialismus oder der Fall der deutschen Mauer. Es ist meines Erachtens durchaus vorstellbar, dass die Pestizidsparten der großen Agrarchemiekonzerne wie Bayer und BASF ein ähnliches Schicksal erleiden wie Kodak oder Nokia, die auch nicht mehr gebraucht werden.
Wer hat sich bereits auf den Weg gemacht?
Gewagtes zu fordern und scheinbar Unmögliches erreichen zu wollen, bedarf Bausteine der Hoffnung. Ein Ausflug in die Welt der Zahlen des biologischen Landbaus, wie sie seit dem Jahr 2000 in dem Jahrbuch »The World of Organic Agriculture« von FiBL und IFOAM – Organics International zusammengetragen und veröffentlicht werden, ist ein Blick in eine hoffnungsvolle Zukunft (IFOAM, 2019).
In vielen Ländern ist der Biolandbau wesentlich weiter als die vergleichbar noch sehr bescheidenen neun Prozent in Deutschland. Mit dem Hinweis, dass Liechtenstein schon einen Anteil biologischer Landwirtschaft von 37,9 Prozent hat und die Südseerepublik Samoa mit 37,6 Prozent Schritt hält, begibt man sich potenziell in Gefahr, belächelt zu werden. Wohin aber auch bei uns in der EU die Reise gehen kann, zeigt Österreich, wo im letzten Jahr schon 25 Prozent der Landwirtschaftsfläche zertifiziert biologisch bewirtschaftet wurden. Im Bundesland Salzburg sind schon 50 Prozent erreicht. Getoppt wird das übrigens im Nachbarland Schweiz, wo im Kanton Graubünden bereits 60 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche Bio ist.
Nun könnte man entgegnen, dass die Umstellung von extensiver alpiner Landwirtschaft noch nicht der große Wurf ist. Nun, in Österreich hat der Weinanbau, der konventionell ja noch mit massivem Chemieeinsatz einhergeht, immerhin auch schon einen Anteil von 14 Prozent. Noch zukunftsweisender ist die Tatsache, dass auch bereits 34 Prozent des Obsts in biologischer Qualität angebaut werden. Namentlich das Burgenland zeigt, was werden soll und kann (siehe dazu auch den Beitrag von Kummer et al. im Heft auf S. 32-33).
Vorreiter Indien
Die gebotene Kürze lässt keine weltweite Betrachtung der Entwicklung zu, aber es muss auf jeden Fall noch der Blick auf ein Land gerichtet werden: Während wir hier seit Jahrzehnten eine AgrarWENDE fordern, findet in Indien eine AgrarREVOLUTION statt. Dass es das kleine nördliche Bundesland Sikkim geschafft hat, auf 100 Prozent Biolandbau umzustellen, ist auch in der Ökologie & Landbau schon publiziert worden.
Kaum bekannt ist die Tatsache, dass Indien sich dynamisch auf den Weg zu 100 Prozent Bio macht. In Uttarakhand, wo Vandana Shiva zu Hause ist, wird ebenfalls an dem Ziel »100 % Bio« gearbeitet. Allein hier sind 1,6 Millionen Farmen in der Umstellung (organic-market.info, 2018). Das gleiche Ziel verfolgt Nagaland. Die wohl größte ökologische Agrarrevolution findet im Bundesland Andhra Pradesh statt, das sich im Rahmen der sogenannten grünen Revolution weitgehend der chemisierten Landwirtschaft verschrieben hatte. Mit der als Zero Budget Natural Farming (ZBNF) bekannt gewordenen Methode arbeitet man dort jetzt an der konsequenten Umstellung von sechs Millionen Bauernhöfen zu Praktiken der biologischen Landwirtschaft.
Indiens Nachbar Bhutan war wohl das erste Land, das sich ein 100-Prozent-Ziel gesetzt hat. Lehrreich ist eine genaue Betrachtung, warum es dort mehr Schwierigkeiten als in Sikkim gibt, das Ziel zu erreichen, denn in den Schoß fällt das keineswegs. Beruhigend und sinnvoll ist daher, dass die Politik Budgets in Höhe von vielen Hunderten von Millionen Euro für die Umstellung und vor allem die Ausbildung der Bauern zur Verfügung stellt.
Diese Entwicklungen haben zur Initiative »100 % Organic Himalaya« geführt, die maßgeblich von Vandana Shivas Navdanya-Bewegung, IFOAM – Organics International und der deutschen Stiftung World Future Council vorangetrieben wird (Varinini, 2019). Wenn es gelingt, länderübergreifend eine riesige Region wie das Himalaya-Gebiet zu 100 Prozent auf Bio umzustellen, dann ist dies auch in der Alpenregion und in den Anden möglich. Schon jetzt ist ökologischer Landbau mit über drei Millionen zertifizierten Betrieben in 181 Ländern eine weltumfassende Realität.
Wenn absehbar zehn bis 20 Millionen Farmen auf der ganzen Welt zeigen, dass der biologische Landbau der richtige und beste Weg in eine Landwirtschaft mit Zukunft ist, ist die Bewegung nicht mehr aufzuhalten. Wir sehen zunehmend zweistellige Wachstumsraten und mit dieser Dynamik und Logik der Mathematik können wir ausrechnen, dass 100 Prozent Biolandbau in einem Zeithorizont liegt, den vielleicht noch wir, aber spätestens die Generation unserer Kinder erleben wird.
Notwendig ... und machbar!
Die mit Zahlen und Fakten belegten Betrachtungen sind Argumente, dass der ganz große, notwendige Wurf zu einer radikalen Agrarwende zumindest nicht leichtfertig als Hirngespinst abgetan werden kann. Aber nur mit visionären Träumen wird das Ziel nicht erreicht. Je erfolgreicher die Menschen sich überall gegen Pestizideinsatz wehren und je schneller sich der Biolandbau entwickelt, umso größer werden die Widerstände derer werden, die von der chemieintensiven, industriellen Landwirtschaft und industrieller Tierhaltung mit Milliarden Renditen profitieren.
Belächelt werden wir schon lange nicht mehr, aber wir müssen uns darauf einstellen, viel mehr und aggressiver bekämpft zu werden. Schon jetzt ist ja eine Heerschar von Lobbyisten mit gigantischen Millionenbudgets dabei, die Pfründe zu verteidigen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu unterdrücken und weltweit die Politik massiv zu beeinflussen. Letzteres macht auch Sinn, denn die Politik spielt ja eine ganz wichtige Rolle bei der visionären »100 % Bio«-Zielsetzung.
Nur wenn die regulatorischen Rahmenbedingungen massiv geändert werden, können wir das ambitionierte Ziel erreichen (siehe dazu auch den Beitrag von Neuerburg im Heft auf S. 20-23). Dafür müssen wir die gemeinsame Agrarpolitik nicht nur marginal ändern, sondern radikal umstellen. Statt Fläche und Landbesitz ungerecht zu subventionieren, bedarf es in Zukunft einer ehrlichen Ökonomie, bei der Steuergelder nur für nachhaltige und ökologische Leistungen der Landwirtschaft vergeben werden.
Gute Strategien von anderen aufgreifen
Eine entscheidende Rolle kommt auch der Nachfrage und dem Markt zu. 100 Prozent biologischer Landbau weltweit heißt ja dann auch, dass es »nur« noch Bioprodukte gibt. Entsprechend brauchen wir enorm gesteigerte Aktivitäten der Marktentwicklung für biologische Produkte. Auch wenn der beeindruckende jährliche Umsatz mit zertifizierten Bioprodukten weltweit mit 92 Milliarden Euro viel größer ist als etwa die Umsätze der Lebensmittelgiganten Unilever und Nestlé, ist das vergleichbar noch ein absolut marginaler Anteil am Gesamtmarkt.
Wohin die Reise geht, zeigt uns wohl am beeindruckendsten Dänemark. Hier haben Biolebensmittel bereits einen Marktanteil von 13 Prozent (IFOAM, 2019)! Was mit den richtigen Strategien und Programmen erreicht werden kann, zeigt noch überzeugender die Stadt Kopenhagen. Dort besteht die öffentliche Verpflegung bereits zu 90 Prozent aus Bioprodukten. Hoffnung macht auch die Tatsache, dass im Prinzip weltweit die jährlichen Zuwachsraten der Marktanteile für Bioprodukte im zweistelligen Bereich zunehmen. Da wir ähnlich beeindruckende Zuwachsraten bei der Umstellung auf Bio haben, genügen einfache Rechenkünste, um am Horizont das Ziel »100 % Bio« zu sehen.
Wir können darüber diskutieren, ob beziehungsweise wie realistisch die ambitionierte Zielsetzung von »100 % Bio« weltweit ist. Ich meine aber, dass wir für solche Grundsatzdiskussionen kaum mehr Zeit haben. Die müssen wir stattdessen nutzen, politisch zu kämpfen, »100 % Bio« zu fordern beziehungsweise zu fördern, dafür wissenschaftlich zu forschen, Strategien zu entwickeln und Steuern sinnvoll zum Steuern einzusetzen. Man muss kein Anhänger von Katastrophenszenarien sein, um zu sehen, dass wir im Galopptempo dabei sind, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Deshalb ist die Frage einer strategisch verfolgten Zielsetzung für »100 % Bio« keine Option oder Alternative. Da gibt es keine Wahl mehr, sondern »nur« noch die Herausforderung und Aufgabe, das Richtige und auch das Mögliche zu tun: »100 % Bio weltweit« – ohne Wenn und Aber.