Umweltpolitik und Krise: Über ein ambivalentes Verhältnis
An ökologischen und sozialen Herausforderungen mangelt es im 21. Jahrhundert nicht. Um mehr Optionen für den Umgang mit gegenwärtigen und zukünftigen Krisenphänomenen zu haben, lohnt ein Blick in die Geschichte von Krisen, die Umweltpolitik maßgeblich beeinflusst haben. Von Klaus Jacob und Annette Elisabeth aus der politischen ökologie 168.
12.04.2022
Haben Wirtschaftskrisen, Ernährungskrisen, Sicherheitskrisen, Gesundheitskrisen und die Klimakrise letztlich die gleiche Ursache und sind Ausdruck einer Endzeit des Kapitalismus? Oder leben wir in einer Zeit, in der immer neue Krisen um Aufmerksamkeit konkurrieren, das politische System vielleicht sogar Krisen für die eigene Legitimation benötigt? Dann wären Krisen vor allem konstruiert, sie konkurrieren miteinander.
Um Politik zu verändern, sind Krisen geradezu erforderlich. Oder kann vielmehr die Umwelt- und Klimapolitik Krisenbewältigung in anderen Politikfeldern unterstützen und einen Beitrag zur Überwindung von Wirtschafts-, Gesundheits-, Migrationskrise leisten? Je nach Perspektive auf das Verhältnis von Krisen und Umweltpolitik wären die Schlussfolgerungen für Umweltpolitik, ihren Umgang mit und eine mögliche Vorbereitung auf Krisen sehr unterschiedlich.
Wir verstehen unter Krise eine sich im Zeitverlauf verschärfende Verschlimmerung eines Zustandes, die von Mitgliedern einer Gemeinschaft als Bedrohung zentraler Gemeinschaftswerte oder -strukturen wahrgenommen wird. Krisen können von Katastrophen begleitet sein, im Unterschied zu diesen sind sie aber nicht einzelne Ereignisse, sondern umfassen einen längeren Prozess. Krisen gehen mit der Erwartung einher, dass sie nach einer Erholungsphase auch wieder ein Ende finden. Krisen sind also perzeptionsabhängig. Das Aufrechterhalten oder Beenden einer Krise ist auch ein politischer Vorgang.
Kollateralgewinne für die Umweltpolitik
Krisen haben die Umweltpolitik in Deutschland von Beginn an begleitet und beeinflusst. Die Wirkrichtung ist dabei oft unklar. Der erste Schwung der Institutionalisierung von Umweltpolitik, der 1971 in der Verabschiedung eines umfassenden und durchaus anspruchsvollen Umweltprogramms mündete, wurde kurze Zeit danach durch die einsetzende wirtschaftliche Rezession ausgebremst.
1975, unter dem Eindruck der durch die Ölpreisschocks ausgelösten wirtschaftlichen Krise, behauptete der damalige Kanzler Helmut Schmidt, Umweltpolitik sei aus dem Ruder gelaufen, und stoppte oder verwässerte eine Reihe umweltpolitischer Vorhaben. Vonseiten des Kanzleramts hatte fortan die Vermeidung von Kosten Priorität – was auch zu Konflikten mit dem damaligen Koalitionspartner FDP führte, der für Umweltpolitik zuständig war.
Aus Umweltsicht vorteilhaft wirkte die Krise immerhin auf die Energiepolitik. Mit dem Motiv, unabhängiger von Ölimporten zu werden, wurden ein zeitweiliges Tempolimit und sonntägliche Fahrverbote eingeführt, Energiesparkampagnen durchgeführt und Investitionen in die Erforschung und Entwicklung alternativer Energiequellen getätigt. Gerade diese Innovationsprogramme waren Jahre später grundlegend für die breite Nutzung erneuerbarer Energien. Allerdings hatten die Programme Energiesicherheit und nicht Umweltschutz zum Ziel. Daher wurden in der Bundesrepublik auch Atomkraft und Fusionsenergie gefördert und in der DDR die Nutzung von Braunkohle ausgebaut – mit dramatischen Folgen für Umwelt und Gesundheit.
Auch zwischenstaatliche Sicherheitskrisen bilden einen wesentlichen Rahmen für Umweltpolitik. Der Schutz globaler Umweltgüter war bis Anfang der 1990er-Jahre dem Ost-West-Konflikt untergeordnet. Zwar gab es 1972 eine erste internationale Umweltkonferenz in Stockholm. Diese war aber wenig effektiv, unter anderem weil die Konferenz von der Sowjetunion und weiteren Staaten des Warschauer Pakts boykottiert wurde.
Die Nachfolgekonferenz fand 20 Jahre später in Rio de Janeiro unter völlig anderen Rahmenbedingungen statt: Die Sowjetunion war zerfallen, die Welt stand vor einem enormen Transformationsprozess. Nord-Süd-Konflikte wurden zumindest etwas abgemildert, indem das Konzept der Nachhaltigen Entwicklung explizit Umwelt und Entwicklung zusammendachte. Allerdings führte der Untergang des realen Sozialismus in der herrschenden Lesart auch zu einer Glorifizierung des realen Kapitalismus und verhinderte für lange Zeit, dass dieser kritisch hinterfragt wurde.
Wenngleich weniger offensichtlich, dürften die Anschläge auf das World Trade Center im September 2011 (»9/11«) und die darauf folgenden Invasionen der USA in Afghanistan und im Irak weitreichende Auswirkungen gehabt haben: Die arabische Welt wurde destabilisiert, der Kampf gegen den Terrorismus bestimmte weltweit die Agenda mit langen Nachwirkungen – man denke nur an den hastigen Abzug des westlichen Militärs aus Afghanistan im Sommer 2021 oder die anhaltenden Migrationsskrisen. Immer wieder gab es Versuche, Umwelt-, Klima- und Entwicklungsfragen für eine Stabilisierung der besonders betroffenen Länder zu thematisieren. Aber Sicherheitsfragen dominieren und verdrängen Umweltfragen auch regelmäßig von der Agenda.
Krisen und Katastrophen als Wendepunkte
Eine umgekehrte Wirkung geht von Umweltkrisen und Katastrophen aus. Stellvertretend sind hier die Reaktorunfälle von Tschernobyl und Fukushima zu nennen, die für die Ziele der Umweltpolitik gerahmt und produktiv genutzt werden konnten. Tschernobyl führte 1986 zur Gründung des Bundesumweltministeriums und damit zur Institutionalisierung von Umweltpolitik. Fukushima wurde Ausgangspunkt einer Energiewende, die den Atomausstieg, Effizienzprogramme und den Ausbau erneuerbarer Energien umfasste.
Ein Blick auf andere Länder zeigt, dass die deutschen Entwicklungen als Wendepunkte von Umweltpolitik nicht selbstverständlich sind. In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 wiederholte sich zunächst das Muster aus der Ölkrise: Die Aufmerksamkeit lag vor allem auf den wirtschaftlichen Problemen, anspruchsvolle Umweltpolitik galt vielen als Last, die man gerade nicht bewältigen konnte. Die konkreten Umweltschäden, etwa die CO2-Emissionen, sanken infolge der Rezession, um danach umso stärker zu wachsen. Allerdings wurde infolge dieser Krise eine moderate Kapitalismuskritik salonfähig, die permanentes Wachstum und partikulare Profite zulasten langfristiger Belange und des Gemeinwohls für problematisch erklärte.
Auch die Migrationskrise 2015/2016 führte dazu, dass Fragen der Zuwanderung und der Integration der Zugewanderten für mehrere Jahre im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit standen und umwelt- und klimapolitische Fragen weitgehend an den Rand drängten. Die Coronapandemie ab 2020 führte erneut zu einer Thematisierung von Gesundheits- und Wirtschaftsfragen und einer Dethematisierung von Umweltfragen. Die Effekte auf die Umweltbelastung waren ambivalent, Lockdowns führten einerseits kurzfristig zur Emissionsreduktion bei Luftschadstoffen und Treibhausgasen, andererseits zu einer erheblichen Zunahme von Abfällen. Ob sich – etwa im Bereich der Mobilität – langfristige Effekte einstellen, ist noch unklar.
Auch die Coronakrise führte zu grundlegender Ideologiekritik, wobei hier – angesichts der pandemiebedingt zusammenbrechenden globalen Lieferketten – eher die wirtschaftliche Globalisierung infrage gestellt wurde. In jedem Fall war es günstig, dass kurz vor der Gesundheitskrise in der EU mit dem Green Deal eine anspruchsvolle Agenda vorgestellt worden war, die dann (zusammen mit der Digitalisierungsagenda) die Grundlage zur Ausrichtung des 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbauprogramms, das von der EU aufgelegt wurde, bot.
Ist auch die Klimakrise eine Krise in dem oben skizzierten Sinne? Im Unterschied zu Wirtschafts-, Gesundheits-, Migrations- oder Sicherheitskrisen ist der Klimawandel ein ungleich langwierigerer Prozess. Damit Klimawandel zur Klimakrise wird, bedurfte es der Thematisierung durch Fridays for Future und anderer sozialökologischer Bewegungen, der Wahrnehmung des Dürresommers 2018 mit zahlreichen Waldbränden, Ernteausfällen sowie Hitzetoten und nicht zuletzt der Flutkatastrophe im Sommer 2021. Selbst wenn Wetterereignisse im Einzelfall nicht dem Klimawandel zugerechnet werden können, werden ihre Häufung und Intensität – unterstützt von politischen Prozessen – als Resultat des Klimawandels gedeutet und als Bedrohung wahrgenommen.
Wie Krisen wirken können
Krisen können auf unterschiedlichen Ebenen wirken: Erstens beeinflussen Krisen massiv die öffentliche Aufmerksamkeit und die Einschätzung, welches Problem vordringlich und wo politisches Handeln jetzt vorrangig sei (Agendaeffekte). Dies wirkt, je nach Art der Krise, zu Ungunsten (so in der Migrationskrise oder der Coronakrise), manchmal aber auch zugunsten von Umweltproblemen und Umweltpolitik (Tschernobyl, Extremwetterereignisse). Da öffentliche Aufmerksamkeit für ein Problem in der Regel eine Voraussetzung für den Beschluss umweltpolitischer Maßnahmen darstellt, können Krisen die Chancen von Umweltpolitik reduzieren oder steigern.
Zweitens können Krisen reale Umweltprobleme reduzieren (z. B. Reduzierung der Emission von Treibhausgasen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, durch die Finanz- und Wirtschaftskrise oder die Pandemie), im Einzelfall aber auch steigern (Umwelteffekte). Damit entfällt eher kurzfristig ökologischer Handlungsdruck, zum Teil entsteht aber auch neuer Handlungsdruck (z. B. Regulierung des Versandhandels).
Es ändert sich also der tatsächliche, aber auch der wahrgenommene Bedarf an Umweltpolitik. Zwischen den realen und den unten beschriebenen ideologischen Effekten bringen vor allem Krisen, die die Wirtschaft dämpfen, regelmäßig das Argument hervor, dass – anders, als die Vertreter*innen der ökologischen Modernisierung annehmen – Ökologie und Ökonomie eben doch nicht vereinbar seien und man sich Umweltpolitik nun gerade nicht leisten könne (Finanz- und Wirtschaftskrise, aber auch schon Ölkrise).
Alternativ können Krisen, die die Ökonomie betreffen, auch den De-facto-Verfall bestimmter Branchen und Geschäftsmodelle beschleunigen und damit ökologisch problematische Pfadabhängigkeiten reduzieren.
Drittens können Krisen verändern, wie wir über unsere Welt – etwa die Globalisierung, den Kapitalismus und den Neoliberalismus – denken (Ideologieffekte). So diskreditierte der Zusammenbruch des Ostblocks Alternativen zum Kapitalismus, die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Coronapandemie brachten diese neu ins Spiel. Gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise und in der Pandemie genießen staatliche Interventionen und Gemeinwohlansprüche an wirtschaftliches Handeln plötzlich neue Legitimität. Das bildet sich in dominanten Diskursen ab, geht aber unter Umständen sehr viel tiefer und kann für Umweltpolitik, die sich bisher unter die dominanten Paradigmen einpassen muss, wichtig sein. Offen ist, ob aus der Klimakrise ein neues Paradigma erwächst, das leitend für andere Diskurse ist.
Viertens kann das sehr stark situative politische Handeln in der Krise auch Gelegenheitsfenster hervorbringen, die eher unabsichtlich für umweltpolitische Themen wirken (»Huckepackeffekte«), man denke an die Aufmerksamkeit für das Energiesparen in der Ölkrise oder die ökologische Ausrichtung von Konjunkturpaketen in der Finanz- und Wirtschafts- ebenso wie in der Coronakrise.
Und die Zukunft?
Der Blick in die Geschichte von Krisen und ihrer Bedeutung für Umweltpolitik lässt für die Zukunft eines sicher erscheinen: Auch in Zukunft wird es Krisen geben – wo und wie lässt sich aber nicht voraussagen. Umweltpolitik tut aber gut daran, sich auf mögliche Szenarien vorzubereiten, um dann zur Bearbeitung von Krisen eigenständige Angebote und Beiträge zu machen.
Welche Krisen können das sein? Ein systematischer Blick würde soziale, technologische, ökonomische, ökologische und politische Faktoren sowie ihre Wechselwirkungen betrachten. In mittlerer Frist scheint es wahrscheinlich, dass Extremwetterereignisse häufiger werden, dass der weltweite Trend zu Autokratisierung ungebrochen bleibt und damit verbunden Konflikte zwischen Staaten virulenter werden. Krisen im Zusammenhang von Digitalisierung lassen sich schon erahnen, die absehbar massenhafte Nutzung künstlicher Intelligenz, autonomer Systeme oder digitaler Währungen wird mit neuen Risiken verbunden sein. Demografischer Wandel wird häufig als ein stetiger Prozess gesehen – aber die Auswirkungen auf soziale Sicherung können durchaus auch schockhaft sein, etwa wenn Vertrauen in Altersvorsorge verloren geht.
Diese Treiber von Veränderung sind nicht unabhängig voneinander, sondern bedingen und verstärken sich wechselseitig. Umso wichtiger ist es, dass umweltpolitische Strategieentwicklung auf Szenarien aufbaut, die alternative Zukünfte beschreiben. Wenn sich auch Zukunft nicht vorhersagen lässt, lassen sich solche Szenarien für die Entwicklung von Strategien nutzen, die auch in unterschiedlichen Zukünften wirksam wären. Szenarien haben auch eine eigenständige koordinierende Wirkung: Geteilte Erwartungen zu möglichen Entwicklungen haben Relevanz für das Tun in der Gegenwart. Umweltpolitik kann und sollte dies systematisch für die eigenen Anliegen nutzen und die mobilisierende Kraft von Zukunftsbildern zum Teil ihrer Strategieentwicklung machen.
Das würde bedeuten, dass Umweltpolitik stärker als bisher in alternativen Zukünften denken müsste und – um diese alternativen Zukünfte zu entwickeln – gesellschaftliche Akteure einbezieht. Das würde auch heißen, dass Umweltpolitik ihre Strategien gegenüber unterschiedlichen möglichen Zukünften einordnet und bewertet und dafür nicht zuletzt auch entsprechende Modelle nutzt.
Strategien zur Krisenbewältigung
Die nächste Krise kommt gewiss. Für die Umweltpolitik sehen wir vor allem drei Strategien:
1. Gegen die Verschiebung öffentlicher Aufmerksamkeit infolge von Wirtschafts- Gesundheits- oder Sicherheitskrisen, gegen das bekannte Argument, nun sei Umweltpolitik gerade nicht so wichtig und man könne sie sich aktuell auch nicht leisten, hilft vor allem eine starke Institutionalisierung der Umweltpolitik, denn Institutionen sind beständiger als die öffentliche Meinung. Man denke an die Mechanismen des neuen Klimaschutzgesetzes, das nicht nur die Ministerien für die Emissionsreduktionen in den Sektoren verantwortlich macht, sondern auch ein Verfahren einführt, mit dem Emissionen überwacht und gegebenenfalls weitere Klimaschutzmaßnahmen angeschoben werden. Weitere Ansätze könnten auf eine stärkere Institutionalisierung von Umweltanliegen im Kabinett abzielen, etwa durch ein Initiativrecht der Umwelt- und Klimaressorts auch außerhalb des eigenen Geschäftsbereichs für Fragen von herausgehobener umwelt- oder klimapolitischer Bedeutung, oder auf ein suspensives Vetorecht. Auch eine bessere Verankerung des Umwelt- und Klimaschutzes in der Verfassung (z. B. ein Grundrecht auf intakte Umwelt) geht in diese Richtung.
2. Krisen im Allgemeinen und Umweltkrisen im Besonderen sind immer auch Gelegenheitsfenster für umweltpolitische Maßnahmen. Eine politische Strategie stellt hier das Problem Surfing dar (1): Politische Maßnahmen, die schon lange sinnvoll, aber chancenlos waren, können nun als Lösung für genau dieses Problem angeboten werden. So lancierte das BMU den Neun-Punkte-Plan für bessere Luft in Städten und Ballungszentren im Kontext des Dieselskandals.
3. Krisen demonstrieren Veränderbarkeit und Veränderungsbedürftigkeit von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Sie beeinflussen auch, wie wir über viele Dinge denken und was wir für richtig halten. Ob es um Sinn und Unsinn globaler Lieferketten, die Frage zukunftsfähiger Mobilitätskonzepte oder das dominante Wachstumsparadigma geht: Umweltpolitiker*innen sollten Krisen auch nutzen, um diese Diskussionen anzustoßen und weiterzubringen.
Literatur
(1) Boscarino, J. (2009): Surfing for problems: Advocacy Groups Strategy in U.S. Forestry Policy. In: Policy Studies Journal 37/3, S. 415-434.