Warum wir Konstruktiven Klimajournalismus brauchen
Beim Thema Klimakrise hat der Journalismus in den vergangenen Jahrzehnten versagt. Maren Urner geht in diesem Beitrag aus »Medien in der Klima-Krise« auf Ursachensuche – und zeigt, wie wir beim Ausweg aus der Misere von Erkenntnissen der Neurowissenschaften und Psycholgie profitieren können.
05.05.2022
Titel des Kapitels im Buch: »Relevanz, Framing und Konstruktiver Journalismus: Warum der Journalismus sich so schwer damit tut, die Klimakrise adäquat zu adressieren«
Wie heißt es so schön: »Viele Köche verderben den Brei!« Und wenn es um die Berichterstattung zur Klimakrise geht, sollten sich darum doch vor allem Klimawissenschaftler*innen und Journalist*innen kümmern, oder? Da braucht es keine Neurowissenschaftlerin, die auch noch mitmischen will. Schließlich kennen sich die einen mit der Thematik aus, und die anderen wissen, wie sie darüber zu berichten haben.
So weit die Theorie. Doch was wir in der Praxis beobachten, ist alles andere als zufriedenstellend. Nicht adäquat über die Klimakrise zu berichten ist in der Geschichte des Journalismus wohl sein größtes Versagen. Ein Versagen, das wir global seit Jahrzehnten beobachten. Höchste Zeit also, sich mit einer frischen Perspektive an die Ursachensuche zu begeben und vor allem auch zu fragen: Wie können wir es besser machen? Darum soll es in diesem Beitrag gehen.
Dafür analysiere ich als Neurowissenschaftlerin aus medienpsychologischer Sicht zunächst anhand der beiden journalistischen Aspekte der Relevanz – also des »Was?« – und des Framings – also des »Wie« –, welche journalistischen Grundverständnisse und damit einhergehenden Praktiken zur aktuellen Situation beigetragen haben. Anknüpfend daran, skizziere ich einen Konstruktiven Journalismus [1] mit seinen entsprechenden Zutaten, der einen Weg aus der Misere aufzeigt. Vereinfacht gesagt, geht es also um eine Antwort auf die Frage, wie der Klimajournalismus von den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der Psychologie profitieren kann. [2]
Bevor ich die journalistischen Missverständnisse zum »Was« und »Wie« aufzeigen kann, bedarf es einer kurzen Verständigung über die Kernaufgabe von Journalismus generell. Auch wenn diese selbstverständlich von unterschiedlichen Theoretiker*innen verschieden ausgelegt wird, lässt sich ein gemeinsamer, grundlegender Kern zusammenfassen, der an dieser Stelle ausreicht, weil er die gesellschaftliche Funktion von Journalismus betont.
So benennt beispielsweise der Sozialwissenschaftler und Publizist Horst Pöttker die zentrale Funktion des Journalismus als »die Herstellung von Öffentlichkeit« [3] und verweist auf dessen Aufgabe der »Übertragung des jeweils isolierten Erfahrungswissens in eine [...] ›offene‹ Sphäre, um so für alle die Möglichkeit der Partizipation am gesellschaftlichen Ganzen zu sichern«. [4] Ähnlich formuliert es der Kommunikationswissenschaftler Klaus Arnold: »Journalismus erbringt [...] für die verschiedenen Akteure der Gesellschaft eine umfassende Orientierungsleistung, indem er über aktuelle, sozial relevante und faktische Vorgänge in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen informiert.« [5] Der US-amerikanische Journalist und Pulitzerpreisträger Jack Fuller betont den befähigenden Charakter von Journalismus für die Rezipient*innen: »[News] must be helping people master their world through knowledge.« [6]
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Fest steht: Mit Blick auf die Klimakrise ist genau dies in den vergangenen Jahrzehnten nicht passiert – sonst stünden wir als Weltbevölkerung aktuell nicht vor der zunehmend ambitionierter werdenden Herausforderung, das Pariser Klimaziel angesichts des rapide schrumpfenden CO2-Budgets noch einzuhalten.
Was? Oder die Frage nach der Relevanz
Die journalistische Perspektive oder: Zwei Missverständnisse
Jede journalistische Tätigkeit ist stets durch das Auswählen oder – je nach Sichtweise – das Weglassen von Themen bestimmt. Welche Ereignisse es auf die Titelseiten, in die Radionachrichten zur vollen Stunde oder die Tagesschau schaffen, entscheiden Redaktionen und Chefredakteur*innen anhand der entsprechenden Relevanz, die wiederum durch bestimmte Kriterien – also die Nachrichtenfaktoren [7] – definiert wird. Durch diese Auswahlfunktion obliegt dem Journalismus eine immense Aufgabe und der Verantwortung, die mich zum ersten Missverständnis bringt: der Vorstellung, es könne eine objektive Faktenvermittlung und Berichterstattung geben.
Diese Vorstellung ist nicht nur in zahlreichen journalistischen Köpfen noch fest verankert, sondern auch staatsvertraglich festgehalten. So verweist der Medienstaatsvertrag angesichts des Auftrags der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten auf die »Grundsätze der Objektivität« [8] und bestätigt etwa, dass in »den Angeboten des ZDF ein objektiver Überblick über das Weltgeschehen, insbesondere ein umfassendes Bild der deutschen Wirklichkeit vermittelt werden«. [9]
Gemäß dieser Überzeugung verstehen sich Journalist*innen gern auch als neutrale Beobachter*innen, die lediglich abbilden bzw. »sagen, was ist«. [10] Dabei helfen die entsprechenden Nachrichtenfaktoren, bei denen vor allem der Faktor der Negativität eine besonders wichtige Rolle spielt. [11] Kausal bedingt sich dieses Selbstverständnis sicherlich aus einem Mix aus Gründen vom Verständnis des Journalismus als vierte Gewalt im Staat bis hin zur Beobachtung, dass sich schlechte Nachrichten besser verkaufen und demzufolge »nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind«. [12] So schaffen es vor allem die Klimathemen in die Berichterstattung, die von negativen Einzelereignissen berichten. Und wir erleben die Klimakrise medial vor allem in Gestalt von Dürren und Flutkatastrophen, verfehlten Klimazielen und Umstrukturierungen oder Eisbären auf schmelzenden Eisschollen sowie sterbenden Korallenriffen.
Dies bringt mich zum zweiten journalistischen Missverständnis hinsichtlich des journalistischen »Was«: Journalist*innen denken klassischerweise in Themen und Ressorts, so auch bei der Klimakrise. Lange Zeit fand Klimaberichterstattung so fast ausschließlich mal im Umwelt- und mal im Wissensressort statt. Mittlerweile hat sich das Spektrum erweitert, Politik und Wirtschaft behandeln Klimakonferenzen, Finanzierungs- und Produktionsfragen. Doch was bleibt, ist die Vorstellung, die Klimakrise sei ein Thema, das sich entsprechend je nach Schwerpunkt einordnen und vor allem abarbeiten lasse.
Die medienpsychologische Antwort
Beginnend mit dem ersten Missverständnis, mache ich es kurz und schmerzhaft: Es kann keine objektive, keine neutrale Auswahl von Themen und Nachrichten geben. Das ist aus psychologischer und neurowissenschaftlicher Sicht leicht nachvollziehbar. Fangen wir mit der Psychologie an: Relevanz bedingt sich stets durch bestimmte Werte und Vorstellungen. So berichten Journalist*innen etwa über Steueroasenskandale mit Namen wie »Panama Papers«, »Paradise Papers« und »Pandora Papers«, weil sie der Überzeugung sind, Korruption sei etwas Schlechtes. [13] Sie vertreten mit ihrer Auswahl automatisch bestimmte Wertvorstellungen und geben einer Thematik im Vergleich zu anderen Ereignissen und Zusammenhängen in der Welt den Vorrang. So gesehen, wird schnell klar, dass nur subjektive – im Sinne von »wert«volle – Nachrichten eine Relevanz haben, die sie berichtenswert machen.
Neurowissenschaftliche Studienergebnisse verdeutlichen die vermeintliche Trennung von Emotionen und »objektiven« Entscheidungen auf physiologischer Ebene. So sind Patient*innen mit bestimmten Schädigungen im sogenannten präfrontalen Kortex im vorderen Bereich des Gehirns unfähig, einfachste Alltagsentscheidungen zu treffen – beginnend bei der Auswahl zwischen zwei unterschiedlichen Kugelschreibern für eine Unterschrift. [14]
Beide Perspektiven verdeutlichen die Tatsache, dass wir nur in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, weil wir Emotionen haben, die wiederum unsere Vorlieben und Werte bestimmen. Egal, ob es sich um triviale Aspekte wie die Lieblingsfarbe oder gesellschaftspolitische Überzeugungen, verbunden mit der Vorstellung einer lebenswerten Zukunft und entsprechender Klimapolitik, handelt.
Die Tragik mit Blick auf die Berichterstattung zur Klimakrise besteht aktuell (noch) darin, dass im Gegensatz zu grundsätzlich im demokratischen Wertekanon verankerten Vorstellungen und damit verbundenen Positionen gegenüber Themen wie der genannten Korruption das Bestreben, das Pariser Klimaabkommen einzuhalten, sehr häufig als Aktivismus verstanden wird. Diese Tragik nimmt zuweilen komische Züge an, geht es doch stets darum, die Lebensgrundlagen für die Spezies Mensch auf dem Planeten Erde möglichst lange erhalten zu wollen.
Hier liegt auch die Antwort auf das zweite journalistische Missverständnis hinsichtlich der Frage nach dem »Was« bzw. der Relevanz: Die Klimakrise ist kein Thema. Sie lässt sich entsprechend nicht auf ein Ressort beschränken oder in einer Themenreihe verarbeiten. Sie ist omnipräsent und durchzieht alle Lebensbereiche. Es bedarf also eines grundsätzlichen Umdenkens auf journalistischer und menschlicher Ebene, das anerkennt, dass sämtliche Themenbereiche von Politik und Wirtschaft bis zu Feuilleton und Sport nur vollständig betrachtet werden können, wenn die »Komponente Klimakrise« und damit existenzielle Fragen der Menschheit mitgedacht werden. Damit das gelingt, bedarf es auch mit Blick auf das journalistische »Wie« einer Neuausrichtung, die mich zu den beiden Missverständnissen auf der Ebene des Framings bringt.
Wie? Oder die Frage nach dem Framing
Die journalistische Perspektive oder: Zwei Missverständnisse
Nach der Themenwahl beginnt die eigentliche journalistische Arbeit: das Recherchieren, Befragen und schließlich die Darstellung – also das »Wie«, das als Text, Audiobeitrag, Video oder multimedial gestaltet wird. Gemäß dem eigenen Objektivitätsanspruchs, ist dabei in vielen journalistischen Köpfen inhaltlich die Aussage des US-amerikanischen und durch das Aufdecken der Watergate-Affäre berühmt gewordenen Journalisten Carl Bernsteins fest verankert: »Our primary function as reporters, editors and news providers, whether online or in print or in TV or video, is to give our readers and viewers the best obtainable version of the truth.« [15]
Gemäß dieser Überzeugung gibt es eine Auswahl von Informationen und Daten, die, in Wörter, Bilder, Töne und Videos verpackt, die »beste verfügbare Version der Wahrheit« transportiert und bei den Rezipient*innen entsprechend ankommt. Diese sind selbstredend in der Lage, die dargestellten Informationen ebenso objektiv zu verarbeiten wie die Journalist*innen. So weit das journalistische Missverständnis mit Blick auf die (Nicht-)Bedeutung des gewählten Framings, also der journalistischen Verpackung, und die Vorstellung, das menschliche Gehirn sei in der Lage, eine zumindest annähernd objektive und neutrale Informationsverarbeitung vorzunehmen.
Fast analog zum zuvor beschriebenen zweiten journalistischen Missverständnis beim »Was«, also der Vorstellung »Klima« sei ein Thema, offenbart die journalistische Perspektive ihr zweites Missverständnis beim »Wie«: Gemeint ist die Idee von Formaten, die mehr oder weniger subjektiv geprägt sein können. Das bekannte Spektrum reicht hier von der (vermeintlich) neutralen Nachricht über das freier gestaltete Feature bis zum Kommentar und der Kolumne, die meinungsbehaftet und subjektiv daherkommen.
Eine erste Problematik, die sich daraus ergibt, möchte ich hier bereits vorwegnehmen. Denn die soeben beschriebene Abarbeitung des »Themas Klima« führt auch dazu, dass die Einordnung klimawissenschaftlicher Fragen, vor allem wenn sie gesellschaftspolitisch diskutiert werden, häufig unzureichend ist, unter anderem weil entsprechendes Fachwissen fehlt. Am anderen Ende der journalistischen Ausdrucksformen mit hohem subjektiven Charakter sind und werden Positionen gegenüber klimawissenschaftlichen Fragestellungen in der Regel an politische Überzeugungen geknüpft. Der Klassiker: »Das Klimathema ist ein Grünen-Thema!«
Die medienpsychologische Antwort
Auch mit Blick auf die beiden Missverständnisse zum journalistischen »Wie« mache ich es kurz und schmerzhaft: Es kann aus mindestens drei Gründen keine objektive Informationsweitergabe geben. Der erste Grund setzt bei der sendenden Person an, die Wörter, (bewegte) Bilder und Töne stets auswählt und damit häufig unbewusst eine bestimmte Rahmung – also das Framing – der transportierten Informationen bestimmt. Diese Auswahl ist ähnlich wie die Themenwahl geprägt von subjektiven und gesellschaftlich geprägten Erfahrungen und Wertvorstellungen des Individuums. So mag der eine von Steuern, die andere von Sozialabgaben sprechen und sich beide auf das gleiche politische Instrument beziehen.
Genau dies bringt mich zum zweiten Grund, der eine objektive Informationsverarbeitung unmöglich macht: Jede Information, die uns erreicht, kann nicht »wahr«genommen werden, sondern wird immer von unserem Gehirn interpretiert. Selbst vermeintlich triviale Aspekte wie die Einordnung von Farben interpretieren unterschiedliche Gehirne und Menschen aufgrund von Biologie und Erfahrungen verschieden. Eindrückliches Beispiel dafür ist das 2015 international bekannt gewordene Bild eines Kleides, auch als »the dress« bekannt, das einige Menschen weiß-gold und andere blau-schwarz sehen. [16]
Hinzu kommen bestimmte Verarbeitungsweisen, die sogenannten kognitiven Biases, [17] unseres Gehirns, die über individuelle Ausprägungen hinaus die Interpretation von Informationen beeinflussen. Mit Blick auf die mediale Informationsweitergabe sind dabei vor allem der »Negativitätsbias« und der »Confirmation Bias«, also der Bestätigungsfehler, zu erwähnen. Ersterer meint die Tatsache, dass das menschliche Gehirn negative Informationen schneller, besser und intensiver verarbeitet, und Zweiterer die Tatsache, dass Positionen, die in unser bisheriges Weltbild passen, besser von uns angenommen werden als solche, die ihm widersprechen.
Beide Biases sind aus evolutionsbiologischer Sicht sinnvoll, weil sie die Wahrscheinlichkeit des kurzfristigen Überlebens vergrößern. So kann eine verpasste Gefahr in Form einer negativen Nachricht oder einer konträren Sichtweise Nachteile bis hin zum Tod bedeuten. Doch hinsichtlich der Klimakrise und im Alltag einer digitalisierten Medienwelt sorgen diese tief in unserem Gehirn verankerten Mechanismen dafür, dass wir medial vor allem negative Einzelereignisse (zur Klimakrise) präsentiert bekommen und es uns entsprechend schwerfällt, bisherige Überzeugungen anzupassen. Das gilt etwa für die Vorstellung, der Mensch könne das Weltklima durch sein Handeln beeinflussen.
Hier setzt der dritte Grund für die Unmöglichkeit einer objektiven Informationsweitergabe an: Jede Information, die wir verarbeiten, verändert unser Gehirn. Das bedeutet, dass wir die gleiche Information beim wiederholten Rezipieren anders interpretieren als zuvor. Gleichermaßen lernt unser Gehirn vor allem über Wiederholung.
Mit Blick auf die Klimakrise möchte ich hier auf die »False Balance« verweisen, die in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder dazu geführt hat, dass sogenannten Klimawandelleugner*innen medialer Raum gegeben wurde. Jede Wiederholung – auch die von Falsch- oder unwissenschaftlichen Aussagen – verändert das Gehirn der Rezipient*innen und hat im Zuge der Berichterstattung zur Klimakrise vor allem dazu geführt, dass Menschen den menschengemachten Klimawandel anzweifelten oder dies noch immer tun.
Zusammenfassend verweisen die medienpsychologischen Antworten auf die Missverständnisse, die der vermeintlichen journalistischen Objektivität zugrunde liegen, auf die immense Verantwortung jeder journalistischen Tätigkeit und der journalistischen Arbeit zur Klimakrise im Speziellen. Die logische Folgefrage lautet: Wie kann ein Journalismus aussehen, der diese Verantwortung ernst nimmt und dessen Protagonist*innen um die unvermeidbaren Auswirkungen ihrer Arbeit wissen?
Die Antwort: Konstruktiver Klimajournalismus
Ein Journalismus, der zentrale Erkenntnisse aus Psychologie und Neurowissenschaften berücksichtigt, ist der seit einigen Jahren zunehmend an Anerkennung und Anwendung gewinnende Konstruktive Journalismus. Unter anderem beruft sich auch die Initiative »KLIMA° vor acht« auf ihn für eine bessere Klimaberichterstattung. [18] Ich selbst habe Anfang 2016 das erste deutschsprachige werbefreie Onlinemagazin für Konstruktiven Journalismus aus der Motivation mitgegründet, der Klimakrise journalistisch besser zu begegnen. [19]
Auch wissenschaftlich wird der Konstruktive Journalismus zunehmend differenziert betrachtet [20] und seine Wirkungsweise untersucht. [21] Ohne an dieser Stelle eine umfassende Einordnung geben zu können, lässt sich die zentrale Eigenschaft des Konstruktiven Journalismus in einem Satz zusammenfassen: Er fragt sowohl übergeordnet als auch ganz konkret stets »Was jetzt?«. Angewendet auf einen besseren Klimajournalismus, skizziere ich diese Denkweise nachfolgend und abschließend anhand von drei Zutaten.
Die erste Zutat knüpft direkt an die zentrale »Was jetzt?«-Frage an, und ich fasse sie als »Zukunftsorientierung« zusammen. Im klassischen (Klima-)Journalismus wird der Blick meist in die Vergangenheit und auf das Hier und Jetzt gerichtet. Was ist passiert? Wer ist schuld? Wie ist der Status quo? Doch eine der zentralen Herausforderungen bei der Berichterstattung zur Klimakrise ist ihre lange zeitliche Komponente, sodass es umso wichtiger ist, über Lösungsansätze zu berichten, zum Beispiel im Bereich der Mitigation, also der Abschwächung schädlicher Ereignisse sowie entsprechenden Folgen, und der Adaption in sämtlichen Lebensbereichen. Dabei gilt es natürlich, Brücken aus dem Hier und Jetzt zu schlagen, um so die dringend notwendige zeitliche, räumliche und soziale Nähe zu den Rezipient*innen herzustellen. Dazu gehört die Diskussion von Handlungsoptionen, die anhand von Lösungsansätzen und -anwendungen Handlungsfähigkeit ermöglichen. [22]
Die zweite Zutat knüpft direkt daran an und adressiert das »Was«, also die Frage nach der Relevanz. Gemäß dem Konstruktiven Journalismus ist die Klimakrise kein Thema und lässt sich nicht auf ein Ressort oder bestimmte Ereignisse wie Konferenzen, Katastrophen oder Konflikte begrenzen. Stattdessen ist klar, dass es um die Zukunft der Menschen auf dem Planeten Erde geht und so selbstverständlich alle Lebensbereiche, von der Ernährung über Wohnen und Mobilität bis hin zur Frage nach einem gesunden, glücklichen Leben, aus Sicht der Klimakrise und damit einhergehend veränderter Lebensbedingungen sowie -gewohnheiten gedacht werden (müssen). Eine weitere Klimarubrik, ein zusätzlicher Klima-Newsletter und auch ein Format wie »KLIMA° vor acht« können also nur Übergangsformate sein, die zu mehr Aufmerksamkeit beitragen sollen. Am Ende muss aber jeder journalistische Beitrag von einer zukünftigen – und damit nicht nur klimatisch veränderten – Welt aus gedacht, recherchiert und veröffentlicht werden.
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Die beiden letzten Stichwörter »recherchieren« und »veröffentlichen« schlagen die Brücke zur dritten Zutat, die erwartungsgemäß das »Wie«, also die journalistische Verpackung oder das Framing, betrifft. Hier geht es vor allem darum, andere Fragen zu stellen, die den Blick automatisch nach vorn richten lassen. Es geht um Fragen, die Lösungs- statt Problemorientierung fördern, weil sich die Journalist*innen bewusst sind, dass jede Information die Gehirne und damit die Rezipient*innen selbst verändern. Angesichts der häufig überwältigenden Thematik der Klimakrise, die Rezipient*innen hilflos und ängstlich [23] zurücklassen kann, gilt es, statt nach dem »Wogegen« nach dem »Wofür« zu fragen.
Ebenso geht es darum, Gruppen neu und damit inklusiver zu definieren, sodass Empathie, Hilfsbereitschaft und Unterstützung für Benachteiligte und bereits jetzt von der Klimakrise stark betroffene Menschen entstehen. Nur wenn die Verbundenheit zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Um- oder – besser »geframed« – Mitwelt verständlich gemacht wird, kann dies überzeugend gelingen. Grundlegende Erkenntnis und Verständnis dafür ist die Einsicht, dass klimatische Veränderungen genau wie Viren weder Grenzen noch Nationalitäten kennen. So geht es bei einem konstruktiven Klimajournalismus, der sich seiner Rolle und Verantwortung bewusst ist, immer auch darum, neue Geschichten zu erzählen: nicht nur die Geschichten der Protagonist*innen, Studien und Beobachtungen, sondern auch von Begriffen wie Freiheit, Erfolg und Zukunft. Denn ohne eine lebenswerte Zukunft ist alles andere ohne Relevanz.
Anmerkungen
1 Für eine ausführliche Beschreibung des Konstruktiven Journalismus und seiner Anwendung vgl. Urner, Maren (2019): Schluss mit dem täglichen Weltuntergang, Droemer Knaur.
2 Das gilt natürlich auch für andere Bereiche des Journalismus bzw. den Journalismus im Allgemeinen. Im Rahmen der Anthologie gilt der inhaltliche Fokus entsprechend der Berichterstattung zur Klimakrise.
3 Pöttker, Horst (1998): Öffentlichkeit durch Wissenschaft. Zum Programm der Journalistik, in: Publizistik, 43. Jg., S. 229–249.
4 Pöttker, Horst (2000): Kompensation von Komplexität. Journalismustheorie als Begründung journalistischer Qualitätsmaßstäbe, in: Löffelholz, Martin (Hrsg.): Theorien des Journalismus. Ein diskursives Handbuch, S. 375–390, Springer Fachmedien.
5 Arnold, Klaus (2008): Qualität im Journalismus — ein integratives Konzept, in: Pub 53, S. 488–508.
6 Fuller, Jack (1996): News values, ideas for an information age, University of Chicago Press.
7 Galtung, Johan/Ruge, Mari H. (1965): The structure of foreign news: The presentation of the Congo, Cuba and Cyprus crises in four Norwegian newspapers, in: Journal of Peace Research, 2, S. 64–91, und Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung,in: Alber-Broschur Kommunikation, Bd.4 [https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/CX4VOZVMAAWQIEIRO6CU62PYPJJN34T2], und Eilders, Christiane (2006): News Factors and News Decisions. Theoretical and Methodological Advances in Germany, in: Communications 31 (1), S.5–24[https://www.researchgate.net/publication/240753315_News_factors_and_news_decisions_ Theoretical_and_methodological_advances_in_Germany].
8 ZDF-Staatsvertrag vom 31. August 1991: in der Fassung des Staatsvertrags zur Modernisierung der Medienordnung in Deutschland (Medienstaatsvertrag) in Kraft seit 7. November 2020; §26 (2).
9 Ebd.; § 5 (1).
10 So der Slogan des Nachrichtenmagazins »Der Spiegel«.
11 Soroka, Stuart / Fournier, Patrick / Nir, Lilach (2019): Cross-national Evidence of a Negativity Bias in Psychophysiological Reactions to News, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 116 (38), S. 18888–18892.
12 Im Original: »Only bad news are good news« und verwandt damit: »What bleads that leads«, also in etwa: »Die blutigen Bilder schaffen es auf die Titelseite.«
13 Bertolaso, Marco (2021): Die Zukunft des Journalismus — Eingreifen statt berichten? Maren Urner vs. Florian Harms [https://www.deutschlandfunk.de/die-zukunft-des-journalismus-eingreifen-statt-berichten-maren-urner-vs-florian-harms-dlf-4f18b01d-100.html].
14 Damásio, António (1994): Descartes’ Error: Emotion, Reason, and the Human Brain, Putnam.
15 APB Speakers (2017): Best Obtainable Version of the Truth — Carl Bernstein [https://www.youtube.com/watch?v=16WiuU1Lbdw].
16 Lafer-Sousa, Rosa/Hermann, Katherine L./Conway, BevilR. (2015): Striking individual differences in color perception uncovered by ›the dress‹ photograph, in: Current biology, 25(13), R545–R546.
17 Bias wird in diesem Zusammenhang häufigals »Verzerrung der Wahrnehmung« übersetzt. Ich bevorzuge »Tendenz« oder »kognitiver Schnellschuss«, weil kognitive Biases häufig mit Überlebensvorteilen einhergehen. Denn nicht immer ist eine möglichst realitätsnahe Wahrnehmung mit Blick auf das (kurzfristige) Überleben die beste Interpretation der Welt.
18 Mayer, Jonas (2021): Journalismus gegen die Klimaangst [https://das-klima-thema.de/en/journalismus-gegen-die-klimaangst], und Niggemeier, Stefan (2021): Was die ARD unter »sehr, sehr viel Klima-Berichterstattung« versteht [https://uebermedien.de/58510/was-die-ard-unter-sehr-sehr-viel-klima-berichterstattung-versteht].
19 Ehl, David/Urner, Maren (2017): Wer gegen Konstruktiven Journalismus ist, hat ihn nicht verstanden [https://perspective-daily.de/article/282-wer-gegen-konstruktiven-journalismus-ist-hat-ihn-nicht-verstanden/t5FpWp47].
20 McIntyre, Karen E./Gyldensted, Cathrine (2017): Constructive journalism. An introduction and practical guide for applying positive psychology techniques to news production, in: The Journal of Media Innovations 4(2), S. 20–34.
21 Eine aktuelle Übersicht pflegt der Journalismusprofessor Kyser Lough auf seiner Website [http://www.kyserlough.com/solutionsjournalism.html]. Siehe auch die Beiträge von Ellen Heinrichs und Marcus Maurer in »Medien in der Klima-Krise«
22 Ryan, Richard M./Deci, Edward L. (2000): Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being, in: American Psychologist, 55(1), S. 68–78.
23 Hickman, Caroline, etal. (2021): Climate anxiety in children and young people and their beliefs about government responses to climate change: a global survey, in: Lancet Planet Health, 5(12), e863–e873.