Gut Ding will Weile haben: Naturschutz und die Zeit
Ob Wälder oder Moore: Natürliche Systeme brauchen unterschiedlich lange Zeiträume zu ihrer Entwicklung. Ohne Zeitmaße gelingt es nicht, die historischen und gegenwärtigen Leistungen der lebenden Natur zu würdigen. Uwe Wegener, ehemaliger wissenschaftlicher Leiter des Nationalparkbeirats, plädiert für Geduld im Umgang mit der Natur in Zeiten des Klimawandels.
13.01.2023
Die Zeit beschreibt die Abfolge von Ereignissen. Sie ist wie ein in die Zukunft gerichteter Pfeil und nicht umkehrbar. Immanuel Kant (1724-1804) fasste Raum und Zeit als die Erfahrung erst ermöglichende »reine Form der Anschauung« auf. Dagegen trennte der Philosoph und Nobelpreisträger Henri Bergson (1859-1941) Raum und Zeit. Für ihn war die Zeit nicht einfach eine leere Bühne für das Wirken der Materie. Die Zeit ist zweifellos eine Grundstruktur des Nacheinanders von Dingen und Ereignissen, die wir in der Entwicklung der Landschaft, in biologischen Prozessen und eben auch im Naturschutz wiederfinden.
Mit menschlichen Zeitmaßen fällt es schwer, geologische Prozesse beispielsweise die Entstehung der Alpen vor 50 bis 30 Millionen Jahren zu überblicken. Und voller Demut sollten wir vor einer Moorbohrung stehen, die uns Einblick in die Entstehung und Entwicklung der zwischen 6.000 und 10.000 Jahre alten Moore gibt, deren Wachstum in der Regel weniger als einen Millimeter jährlich beträgt. Und das auch nur dann, wenn es gelingt, den Wasserhaushalt stabil zu erhalten oder wenn bei Regenmooren ausreichend Niederschläge zur Verfügung stehen.
Das 20. Jahrhundert war gekennzeichnet durch einen massiven Moorabbau, durch den industriellen Torfabbau in Nordwestdeutschland und durch die Intensivierung der landwirtschaftlichen Nutzung auf den Moorböden in Nordostdeutschland. Das hat in wenigen Jahrzehnten zum Verschwinden ganzer Moorlandschaften geführt, was von Michael Succow und Lebrecht Jeschke 2022 eindrucksvoll in »Deutschlands Moore« beschrieben wird. Der Schutz der Moore geht weit über den eigentlichen Naturschutz hinaus. Er ist zu einer landeskulturellen Aufgabe geworden, welche den Klimawandel in der Landnutzung mitbestimmt.
Torfabbau in Nordwestdeutschland. |
Der Wert des Alters
Wälder stellen heute die Lebensräume dar, die besonders artenreich und der natürlichen Dynamik am nächsten sind. Verständlicherweise stehen daher sehr viele Waldgebiete unter Schutz und auch von den 16 Nationalparken in Deutschland sind zehn überwiegend mit Wald bedeckt. Bei der Unterschutzstellung spielte häufig der Gedanke mit, den Wald so zu erhalten, wie er sich gerade darstellt.
Wälder sind jedoch lebende Systeme, Ökosysteme, die einem zeitlichen und strukturellen Wandel unterliegen. Forstlich gelten Wälder im Alter von 100 Jahren bei der Fichte oder 140 Jahren bei der Buche als alt und hiebsreif. »Überalterte Wälder« sind für den Förster ein Graus, da mit zunehmendem Alter unterschiedliche Risiken verbunden sind und die Bearbeitung schwerer wird.
Für den Naturschutz gewinnt aber ein alternder Wald erst an Wert. Bei der Baumart Buche wird im Alter von 80 die dunkle Dickungsphase überwunden, im Alter von 160 setzt eine deutliche Strukturierung ein und im Alter von 200 beginnt die Zerfallsphase, die einen Buchenwald zu einem artenreichen Ökosystem werden lassen. Verständlicherweise sind diese zeitlichen Entwicklungsstadien auch von den klimatischen und anthropogenen Bedingungen abhängig und vollziehen sich im Klimawandel anders als noch vor 50 Jahren.
Man muss nicht unbedingt am Stamm eines 2.500 Jahre alten Mammutbaums stehen, um Ehrfurcht vor den langen Zeiträumen und einem biologischen Wesen zu empfinden, in Mitteleuropa kann man bereits eine 300 Jahre alte Buche, soweit sie noch gefunden wird, voller Demut umfassen.
Alt und Jung, Groß und Klein. |
Langzeitexperiment Nationalpark
Nationalparke sind für Jahrhunderte geschaffen, das bedingt die Eigendynamik der langlebigen Waldökosysteme. Werden aber diese biologischen Systeme, die sich im Laufe der Jahrtausende herausgebildet haben und seit mehreren Jahrhunderten vom Menschen beeinflusst sind, noch weitere Jahrhunderte Zeit haben für ihre Eigendynamik? Sowohl der schnelle Wandel in den Fichtenökosystemen als auch das Absterben der Altbuchen als Folge der Trockenheit in den Sommermonaten zeigt, dass Grenzen erreicht werden. In der sich während des letzten Jahrzehnts herausgebildeten Walddynamik bleiben viele Fragen offen:
- Entwickeln sich die Waldökosysteme zukünftig noch in den uns bekannten Denkmustern?
- Wie lässt sich der Bodenschutz von überwiegend flachgründigen Böden bei der Zunahme der Starkniederschläge sichern?
- Wie reagieren die Bodenvegetation, die Vogelwelt, die Insekten auf die gravierenden Lebensraumveränderungen?
Wir erleben in den Nationalparken nicht nur einen Langzeitversuch, sondern auch ein spannendes Raum-Zeit-Experiment, vielleicht die schwierigste, aber auch interessanteste Zeit seit 200 Jahren Wald- und Forstgeschichte. Marc Aurel (121-180 u. Z.) wird folgender Spruch zugeschrieben: »Beachte immer, dass nichts bleibt, wie es ist, und denke daran, dass die Natur immer wieder ihre Formen wechselt.«
Blick über den Nationalpark Harz. |
Der Mensch im Anthropozän und die Zeit
Der Mensch als Zeitwesen mit einer begrenzten Lebensspanne ist in dieses Raum-Zeit-Gefüge eingebettet. Im Anthropozän bestimmt er in wachsendem Maße die natürlichen Prozesse, in bester Absicht, aber durchaus nicht immer zu seinem Vorteil. In Nationalparken soll zwar in Jahrhunderten gedacht werden, aber den Akteuren läuft, bedingt durch den schnellen Klimawandel, die Zeit davon.
Offensichtlich gibt es Kipppunkte im Erdklima, also irreversible Entwicklungen oder Sprünge, die ein Zurück zum alten Zustand dann nicht mehr zulassen. Klimatologen sind der Meinung, dass das Klimasystem der Erde auch bei der Beherrschung des CO2-Haushalts nicht in seinen holozänen Zustand zurückschwingen wird. Nach Meinung der Klimatologen sei eine Beeinflussung des Klimawandels noch möglich, wenn es gelingt, den CO2-Haushalt der Erde zu steuern bei gleichzeitiger Erhaltung der Arten- und Formenvielfalt, die für die Sicherung der Evolution auf der Erde von entscheidender Bedeutung ist.
In diesem Beitrag wurden nur zwei Beispiele für das Verhältnis von Zeiträumen und Schutz gewählt, das waren die Moore und die Wälder. Um die Moore zu sichern, sind es die Einstellung des Moorabbaus, eine moorerhaltende landwirtschaftliche Nutzung oder Aufforstung, die Wiedervernässung der Moore und eine moorschonende Paludikultur.
Bei den Wäldern ist dem Schutz alter Wälder größere Aufmerksamkeit zu widmen. Mehr Geduld ist erforderlich, wenn es darum geht, dynamische Waldentwicklungen abzuwarten und dem Jungwuchs der heimischen Arten eine Chance zur Anpassung zu geben. Im Hinblick auf die Zeitmaße sind Nationalparke auch Stätten der Langzeitforschung.