Stadtnatur

Überraschende Vielfalt: Warum die Biodiversität in der Stadt so hoch ist

»Land« gleich blühende Landschaften und Artenvielfalt, »Stadt« gleich Beton und Ödnis? Das stimmt so nicht! Wenn man mit offenen Augen und Ohren durch die Stadt streift, kann man eine überraschende Vielfalt an Tieren und Pflanzen entdecken, die die Vorzüge des urbanen Raums für sich zu nutzen wissen – welche das sind, erklärt der bekannte Ökologe Josef H. Reichholf und zeigt, warum die Stadt an vielen Orten ein wahrer Hotspot der Biodiversität ist.

24.07.2023

Überraschende Vielfalt: Warum die Biodiversität in der Stadt so hoch ist | Biodiversität Stadtnatur Stadtökologie

Das Zusammenleben zwischen meschlichen und gefiederten Stadtbewohnern funktioniert meist hervorragend: An der Vogelwelt Interessierte registrieren die Arten und ihre Bestände beim morgendlichen Vogelkonzert in den Stadtparks, zählen Vögel an den Futterstellen im Winter oder beteiligen sich an tiefergehenden ornithologischen Forschungen, sei es an Wanderfalken oder Eulen in den Städten. Zählungen der Wasservögel auf und an städtischen Gewässern finden seit vielen Jahren statt. Beringte und anderweitig markierte Gänse, Schwäne oder Enten verfolgt man auf ihren (Flug-)Wegen. Dem Ansinnen, das Wassergeflügel durch Abschüsse zu »dezimieren«, stellen sich zunehmend Bürgerinitiativen entgegen. Die in der Stadt freilebenden Vögel werden völlig zu Recht als Allgemeingut betrachtet, über das einzelne Interessenträger nicht allein verfügen dürfen.

Immer mehr dehnt sich diese Haltung auch auf die Säugetiere aus. Nicht nur Eichhörnchen werden beobachtet und gefüttert, sondern auch Biber an Stadtgewässern, Waschbären in Hinterhöfen, Füchse im Garten und die Igel ganz allgemein, obgleich gerade sie wirklich keine Streicheltiere sind. Ein gewisser Trend, Gärten schmetterlings- und wildbienenfreundlicher zu gestalten, macht sich bemerkbar. Baumschutz gehört zur Selbstverständlichkeit. Längst akzeptiert man, dass nicht alle Grünflächen permanent wie Golfrasen gemäht werden und als Liegewiesen zu dienen haben. Blühwiesen zu ermöglichen, spart Geld. Wie die Verminderung so manch übertriebener Pflege auch, die selbstverständlich war, weil früher alles geschniegelt und geputzt auszusehen hatte. Gibt man sie auf, wird mehr Natur ermöglicht.

Wilde Natur neben Treppen im Mauerpark in Berlin

Dennoch würde all dies, so wichtig es ist, nicht ausreichen, die hohe Biodiversität in den Städten zu erklären. Andere, sehr gewichtige Faktoren wirken mit. Drei ganz unterschiedliche sind es, die generell und global die Biodiversität bestimmen: Flächengröße, Strukturiertheit und Nahrung / Nährstoffe. Hinzu kommen zwei weitere: die Wirkungen von Feinden / Störungen und, zu verstehen als Rahmenbedingung, die lokalen / regionalen klimatischen Verhältnisse.

Zur Vogelwelt ist zu sagen, dass ihr Artenreichtum mit der Flächengröße der Städte ansteigt. Doch der Flächeneffekt erklärt nur etwa die Hälfte der Artenvielfalt. Die allermeisten Städte liegen deutlich über dem ihrer Flächengröße gemäßen Erwartungswert, der ihnen zukäme, würden sie mitteleuropäischer Durchschnittslandschaft entsprechen. Dass dem so ist, liegt an der besonderen Vielfalt an Strukturen, die es in den Städten gibt.

Was ist mit »Strukturvielfalt« (wissenschaftlich: struktureller Diversität) gemeint? Sie umfasst nicht allein die uns geläufigen Hauptbestandteile, wie Gebäude, Straßen und Verkehrstraßen, Gärten und Parks sowie die Gewässer in der Stadt, sondern für jede dieser Kategorien zahlreiche Detailstrukturen. So gibt es an alten Gebäuden, insbesondere solchen, die Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts im neoklassizistischen Stil erbaut worden waren, sowie an alten Burgen und Befestigungsanlagen viele Nischen, Erker, Vorsprünge oder Winkel. Vögel können darauf oder darin ihre Nester anlegen, Ruhe- und Aussichtsplätze einnehmen und Fledermäuse ihre Tagesrast halten.

Das totale Gegenteil davon sind moderne voll verglaste Hochhausquader ohne jegliche Fassadenstruktur. Sie stellen den Nullwert für Strukturdiversität dar. Eigentlich sollten sie auf der Negativseite verbucht werden, weil an ihrem gläsernen Äußeren zahllose Vögel zu Tode kommen.

Ein Turmfalke sitzt auf einem Hausvorsprung

Von der Gebäudehöhe und ihren Formen hängt es ab, wie viel und wie weit sie Schatten werfen und wie sie die Luftströmungen direkt über der Stadt beeinflussen. Jedes hohe Gebäude umgibt ein grundsätzlich gleiches Umfeld wie einen hohen Berg oder, zusammen mit anderen Gebäuden unterschiedlicher Höhe, wie ein Gebirge. Zu den Erstbesiedlern der Städte gehörten daher Bergvögel. Doch während einzelne Berge oft schon mehr als die Fläche einer Großstadt einnehmen, umgibt in der Stadt jedes Gebäude eine kleinteilige Vielfalt unterschiedlicher Seiten und Expositionen. Kein natürlicher Lebensraum erreicht in dieser Hinsicht eine vergleichbar hohe Strukturvielfalt. Das gilt wiederum grundsätzlich auch für das enorm dichte Netzwerk von Straßen und Trassen, die verbinden und trennen. Wie beim Verkehr auch.

Die Wohnsiedlungsbereiche treiben auf andere Weise die Strukturvielfalt auf die Spitze. Denn wir Menschen haben die Neigung, mit den Gärten als »unserem Revier« ein ausgeprägtes Maß an Eigenständigkeit mit dem ebenfalls vorhandenen Hang zur Konformität zu verbinden. Der Garten wird zwar individuell, bleibt aber »Garten«, wie im betreffenden Stadtviertel üblich. Abweichungen davon bekräftigen die Regel, denn man missbilligt sie zumeist. Schrebergärten unterliegen aus gleichen Gründen dem Normierungszwang – mit individuellen Noten selbstverständlich, die zugebilligt werden.

Als Vogel könnte man meinen, die Stadtgärten der Wohnsiedungsbereiche wären für sie als Nist- und Brutreviere vorgeformt. Für Amsel & Co. passen sie vielfach. Die Umzäunung, häufig mit ziemlich dichten Hecken, verstärkt den Reviercharakter. Zu dieser Raumstruktur am Boden mit tausendfacher Wiederholung in dennoch nie gleicher Version kommt eine weitere Strukturierung in der Vertikalen hinzu. Von offenem oder kurzrasig gehaltenem Boden über angelegte Beete mit unterschiedlicher Bepflanzung bis zu knie-, brust- oder übermannshohen Hecken entlang der Umzäunung und unterschiedlich hohen Bäumen reicht das Strukturspektrum.

In einer größeren Flächendimension wiederholt sie sich in den Parkanlagen. Diese können, wie der Englische Garten in München, an der Peripherie direkt in Wald übergehen oder eine große Waldinsel bilden, wie der Tiergarten im Zentrum von Berlin. Mit kleinen Gartenteichen beginnt das Größenspektrum der innerstädtischen Gewässer. Es erstreckt sich bis zu größeren Teichen oder richtigen Seen und dem Meer, wenn die Stadt an ihrem Ufer liegt. Entsprechendes gilt wiederum für die Fließgewässer, vom kleinen Bach bis zu Städten an Fluss oder Strom.

Tipp: Warum naturnahe Flusslandschaften wichtig für die Biodiversität sind, erklärt Josef H. Reichholf im Videointerview.

Eine Seenlandschaft mit Gänsen im Englischen Garten in München

Das Spektrum der Biotope umfasst damit auf engstem Raum sehr trockene Stellen wie auch Gewässer, offenes oder ziemlich bewaldetes Gelände, frei Zugängliches oder Verschlossenes. Überall können besondere Arten leben. Die Gesamtheit der Strukturvielfalt zu messen, fällt schwer bzw. ist schlechterdings unmöglich, wenn auch die kleinen Tiere, wie Insekten, und entsprechend kleine Pflanzen darauf bezogen werden sollen. Zwei Aspekte sind in diesem Zusammenhang zu betonen. Erstens ergab und ergibt sich diese Strukturvielfalt von selbst und zweitens verbinden wir mit ihr auch etwas sehr auf uns selbst Bezogenes, nämlich die Lebensqualität des Wohn- oder Arbeitsorts.

Ein berechtigter Einwand führt zum dritten, am wenigsten beachteten Hauptfaktor, der Biodiversität ermöglicht oder fördert. Es gibt Winkel, in denen Brennnesseln oder Brombeergestrüpp wuchern, weil »nichts getan wird«. Das ist richtig und führt auf die Spur zu diesem Hauptfaktor. Dort ist nämlich der Boden, aus welchen Gründen auch immer, sehr reich an Pflanzennährstoffen, insbesondere an Stickstoffverbindungen, die das Wachstum einiger weniger Pflanzenarten begünstigen. Als »nitrophil« (Stickstoff-liebend; besser Stickstoff-bedürftig) werden sie charakterisiert. Tatsächlich bringt für die Biodiversität eine hohe Strukturiertheit wenig, wenn Überdüngung eine Art oder einige wenige Arten wuchern lässt. Sie verdrängen die vielen anderen, die gedeihen könnten, wäre der Boden magerer. Sich selbst überlassene, nährstoffreiche Gebiete, die als »Biotope« ausgewiesen und sogar durch hohe Zäune vor Störungen und Beeinträchtigungen seitens der Menschen geschützt werden, wachsen nicht selten in wenigen Jahren völlig zu und verlieren dabei an Biodiversität, anstatt diese erhalten oder gefördert zu bekommen.

Im Klartext heißt dies, dass das hohe Ausmaß von Störungen in städtischen Biotopen bei einer Vielzahl kleiner Tier- und Pflanzenarten zur Erhaltung der Biodiversität beiträgt. Bei größeren, störungsempfindlichen Arten ist das selbstverständlich anders. Oder, allgemeiner, was für die einen gut ist, kann für andere ungünstig sein. Ein mäßiges Ausmaß an Störungen begünstigt jedoch im Allgemeinen die Biodiversität. Das erklärt die an sich zunächst paradoxe Situation, dass sich ausgerechnet in den größten Zusammenballungen von Menschen sehr viel Biodiversität entwickeln kann. Die Problematik der Störungen oder ganz direkt der Verfolgung trifft vor allem die größeren Vögel und manche Säugetiere. Wo die Menschen angehalten sind, auf festen Wegen oder Straßen zu bleiben, können sich die lernfähigen Arten rasch darauf einstellen, ihre Fluchtdistanz stark vermindern und somit Orte in der Stadt bewohnen, die ihnen draußen in der freien Natur keine Chancen zum Leben bieten würden. Weil sie dort nicht bloß zu oft gestört, sondern auch direkt verfolgt und getötet würden.

Ein Fuchs trinkt aus einer Pfütze, im Hintergrund sieht man den Berliner Hauptbahnhof

Schließlich ist das Stadtklima mit seiner Besonderheit als Rahmenbedingung anzuführen. Es begünstigt viele Arten, weil es in den (großen) Städten wärmer und trockener, weniger windig und frostig ist. Wiederum kommen Details dazu, die vom Material des Untergrunds, der Bauwerke wie des Bodens, beeinflusst werden. So können Fledermäuse in den Städten, von den Vollglasgebäuden abgesehen, ziemlich leicht Tagesrastplätze oder Wochenstuben finden, die genau das passende Mikroklima dafür bieten, weil es alle möglichen Differenzierungen von sonnigen, halbschattigen oder schattigen, trockeneren oder feuchteren Stellen gibt. In den Wäldern, besonders in Wirtschaftsforsten aus einförmigen Alterklassenbeständen von Bäumen, gibt es nicht annähernd diese Vielfalt.

Tipp: Vor welchen Herausforderungen die Forstwirtschaft in Sachen Biodiversität im Wald steht, lesen Sie in »Der Wald im Klimawandel«

Nicht allein das eigentliche Stadtklima, wie es meteorologisch gemessen wird, drückt also aus, wie geeignet welcher Ort für das Leben von Pflanzen und Tieren ist, sondern auch das Mikroklima. Nirgendwo ist dieses so vielfältig wie in den Städten. Alle wesentlichen Teilfaktoren, die über Vorkommen und Häufigkeit von Arten bestimmen, gibt es in der Stadt in höchst unterschiedlichen Kombinationen.

Das Ergebnis ist eine Biodiversität, die beträchtlich über der »Normalen« für die betreffende Region liegt, sofern Flächen gleicher Größe miteinander verglichen werden. Die Stadt ist als Lebensraum damit etwas Neues, aber nichts grundsätzlich anderes und schon gar nicht »unnatürlich«, wie vielfach angenommen oder gegen die Stadt und ihre Entwicklung polemisiert wird. Sie ist menschengemacht, aber das ist die Kulturlandschaft auch; jede Kulturlandschaft, nicht nur die der »guten alten Zeit«, der wir Naturschützer nachtrauern.

Eine Kleingartenanlage auf dem Tempelhofer Feld in Berlin

Dieser Beitrag stammt aus 

Eine neue Heimat für Tiere und Pflanzen

»Die gängige These, dass die ›böse Stadt das gute Land frisst‹, ist nicht mehr haltbar!«
Josef H. Reichholf

Ob Wildschweine in Berlin oder Wanderfalken in Köln - viele Wildtiere haben ...   

Mehr zum Autor 

 Josef H. Reichholf ist einem breiten Publikum als Autor zahlreicher Sachbücher bekannt, darunter mehrerer Bestseller. Bis 2010 war er an der Zoologischen Staatssammlung München aktiv und lehrte als Professor für ...

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