Wie steht es um die Biodiversität in Deutschland? 18 Thesen zur Artenvielfalt
Die biologische Vielfalt in Deutschland ist massiv gefährdet. Lebensräume und Arten verschwinden, während negative Einflüsse wie der Klimawandel und die Intensivierung der Landnutzung weiter zunehmen – das zeigt der »Faktencheck Artenvielfalt«, eine umfassende Studie von rund 150 Autor*innen von 75 Institutionen und Verbänden. Doch es gibt auch Hoffnung: Innovative Technologien, politische Maßnahmen und gezielte Naturschutzprojekte können den negativen Trends entgegenwirken. Lesen Sie 18 Thesen zum aktuellen Stand von Artenvielfalt und Ökosystemen in Deutschland.
17.10.2024
Hinweis: Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Kapitel »Kernaussagen« des Buchs »Faktencheck Artenvielfalt« (im Open Access verfügbar).
1. Über die Hälfte der Lebensraumtypen Deutschlands ist in einem ungünstigen Zustand.
Insgesamt 60 % der 93 Lebensraumtypen, die für das Agrar- und Offenland, den Wald, die Binnengewässer und Auen, die Küsten- und Küstengewässer sowie die urbanen Räume beschrieben werden, zeigen einen unzureichenden oder schlechten Erhaltungszustand und rückläufige Entwicklungstendenzen.
Besonders besorgniserregend ist die Situation der Lebensraumtypen im Grünland, auf ehemals artenreichen Äckern, in Mooren, Moorwäldern, Sümpfen und Quellen. Mehr als die Hälfte der Meeres- und Küstenlebensraumtypen der Nord- und Ostsee sind langfristig gefährdet. In Städten gehen durch Innenverdichtung und den Ausbau weiterer (Verkehrs-)Infrastruktur naturnahe und kulturlandschaftlich geprägte Lebensraumtypen verloren. Es gibt nur wenige positive Entwicklungstendenzen, z. B. bei den Laubwäldern, die aber durch den Klimawandel gefährdet sind.
2. Die Bestände vieler Arten sind rückläufig. Ein Drittel der untersuchten Arten ist in ihren Beständen gefährdet.
Von den etwa 72.000 in Deutschland einheimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang etwa 40 % auf die Gefährdung ihrer Populationen hin untersucht und in Roten Listen erfasst. Fast ein Drittel aller Arten in den Roten Listen sind bestandsgefährdet, das heißt, sie sind vom Aussterben bedroht oder stark gefährdet; etwa 3 % gelten bereits als ausgestorben.
Stark gefährdet sind viele Reptilien- und Amphibienarten sowie zahlreiche Insektenarten und andere Gliedertiere. Für Letztere und viele weitere Artengruppen fehlt jedoch die Datengrundlage, die für eine verlässliche Einstufung notwendig ist.
Die Bodenbiodiversität ist bisher in Roten Listen zu weniger als 5 % repräsentiert, weshalb Aussagen zur Gefährdung der biologischen Vielfalt des Bodens kaum möglich sind. Einzelne Zunahmen der Populationsgrößen zeigen sich innerhalb der Artengruppen der Säugetiere, Vögel, Tagfalter und Libellen, hingegen nicht für Arten, die auf seltene oder gefährdete Habitate angewiesen sind.
3. Für die Erfassung der biologischen Vielfalt gibt es in Deutschland kein standardisiertes Verfahren. Dies hat bislang repräsentative Aussagen erschwert.
Es gibt in Deutschland keine über Artengruppen und Lebensräume hinweg standardisierte, regelmäßige Erfassung der biologischen Vielfalt. Die Biodiversitätserfassung erfolgt sowohl durch zahlreiche voneinander unabhängige Programme, die von verschiedenen Behörden und Forschungsinstituten durchgeführt werden, als auch ehrenamtlich von Vereinen, Fachgesellschaften oder Verbänden für ausgewählte Artengruppen, Lebensräume und Facetten der biologischen Vielfalt.
Die Initiativen sind größtenteils nicht aufeinander abgestimmt. Dies erschwert die Verknüpfung der Daten und eine umfassende wissenschaftliche Auswertung sowie die Vorhersage der Entwicklung der gesamten biologischen Vielfalt. Zur Änderung der genetischen Vielfalt liegen kaum Daten vor. Ein integriertes, methodisch vereinheitlichtes und dauerhaft etabliertes Biodiversitätsmonitoring wird benötigt, um deutschlandweite repräsentative Trends der biologischen Vielfalt in all ihren Facetten zu erkennen, die Ursachen besser zu verstehen und den großflächigen Erfolg von Strategien für den Schutz und die Förderung der biologischen Vielfalt zu überprüfen.
4. Jüngere Untersuchungen bestätigen die negativen Befunde der Roten Listen für einzelne Artengruppen. Auch positive Entwicklungen konnten für manche Gruppen gezeigt werden.
In den letzten Jahren wurden etliche Studien für einzelne Artengruppen publiziert, die für Deutschland eine generelle Abnahme der Biomasse von Insektengemeinschaften und überwiegend Populationsrückgänge von Schmetterlings- und Pflanzenarten zeigen. Die Populationen vieler Libellenarten nehmen dagegen zu. Bei anderen Gruppen der Insekten sowie der Pflanzen sind nicht nur seltene, sondern auch häufigere Arten rückläufig. Die Populationen von Vögeln im Agrar- und Offenland sind in knapp 40 Jahren um mehr als die Hälfte zurückgegangen.
Für Artengruppen in Fließgewässern konnten in den vergangenen Jahrzehnten Zunahmen in Arten- und Individuenzahlen dokumentiert werden, allerdings ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau und nach wie vor deutlich von einem guten Erhaltungszustand entfernt. Insgesamt zeigt sich eine beschleunigte Verschiebung hin zu neuartigen Lebensgemeinschaften mit einem zunehmenden Anteil gebietsfremder Arten, primär in Küstengewässern und großen Fließgewässern.
5. Der »Faktencheck Artenvielfalt« hat über 15.000 Zeitreihen zu Aspekten der biologischen Vielfalt von Lebensgemeinschaften aus der Literatur und Datenerhebungen zusammengetragen und ausgewertet. Rückläufige Trends der biologischen Vielfalt überwiegen in vielen Lebensräumen.
Signifikante Trends werden dabei hauptsächlich in längeren Zeitreihen sichtbar. Die Trends der Artenvielfalt sind häufiger negativ als positiv, obwohl die Methodik das Erkennen positiver Trends wahrscheinlicher macht. Negative Trends sind besonders ausgeprägt bei den Gemeinschaften der Wirbellosen der Wälder, Binnengewässer und Auen sowie der Küste und den Küstengewässern.
Außerdem gibt es innerhalb der Organismengruppen für Teilgruppen unterschiedliche Trends. Während im Agrar- und Offenland der Anteil positiver und negativer Entwicklungen über alle Pflanzengemeinschaften hinweg weitgehend ausgeglichen ist, zeigen Ackerwildkrautgesellschaften stark abnehmende Trends. Im Wald zeigen die Säugetiere mehr positive als negative Entwicklungen. Die biologische Vielfalt der Küste und Küstengewässer zeichnet sich durch eine sehr hohe Dynamik aus. So wird zwischen einzelnen Jahren unabhängig von der Organismengruppe um die Hälfte des Arteninventars der Lebensgemeinschaften ausgetauscht. Für die biologische Vielfalt in urbanen Räumen und die Bodenbiodiversität gibt es kaum repräsentative Zeitreihen, die eine Trendanalyse erlauben.
6. Neue Technologien werden die Erfassung von biologischer Vielfalt revolutionieren. Es besteht aber noch Entwicklungsbedarf.
In der Zukunft wird das Biodiversitätsmonitoring durch neue Methoden stark erweitert werden. Einige kommen auch heute schon zum Einsatz, wie die genetische Artbestimmung (Metabarcoding), die automatische Arterkennung in Bildern aus Fotofallen und von Smartphones, das akustische Monitoring oder das fernerkundliche Umweltmonitoring. Diese Methoden können herkömmliche Verfahren ergänzen, deren zeitliche und räumliche Auflösung deutlich erhöhen, den Kreis der Artenbestimmer vergrößern, das erfassbare Artenspektrum erweitern und neue Facetten, wie z. B. die genetische Vielfalt, berücksichtigen.
Nach bisherigen Erfahrungen mit diesen Methoden besteht allerdings noch erheblicher Entwicklungsbedarf, besonders bei der Erfassung von Individuenzahlen und Biomassen. Für einige Artengruppen sind Metabarcodingmethoden bereits hinreichend entwickelt, um sie breit und mit der nötigen Auflösung anzuwenden, z. B. für Fluginsekten oder bei Süßwasserfischen durch geringe Mengen an DNA, die Organismen an die Umwelt abgeben (Umwelt-DNA).
Welche Rolle spielt die biologische Vielfalt in Ökosystemen und für uns Menschen?
7. Biologisch vielfältige Lebensgemeinschaften erbringen essenzielle Leistungen für uns Menschen.
Dazu gehören neben der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen vor allem Regulationsfunktionen wie die Blütenbestäubung, die Aufrechterhaltung von Nährstoffkreisläufen, der Klimaschutz, der Rückhalt von Wasser in der Landschaft und der Küsten- und Erosionsschutz. Sie erbringen auch viele wichtige kulturelle Leistungen. Der Wissensstand für Deutschland erlaubt es, beispielhaft zu bewerten, wie sich Änderungen der biologischen Vielfalt auf diese Leistungen auswirken. Eine umfassende Bilanz der Wirkung von biologischer Vielfalt auf Ökosystemleistungen ist jedoch bislang nicht möglich.
8. Ökosysteme sind leistungsfähiger und funktionieren stabiler, wenn sie eine hohe biologische Vielfalt besitzen.
Experimente und gezielte Beobachtungen im Freiland belegen für Deutschland und Mitteleuropa, dass artenreiche Ökosysteme leistungsfähiger sind und stabiler funktionieren als artenarme Systeme. Das liegt unter anderem daran, dass sich verschiedene Arten (oder funktionelle Gruppen von Arten) bei vielen Leistungen wie Nährstoffaufnahme, Wachstum oder Zersetzung ergänzen (»Komplementarität«), direkt unterstützen und bei Stress oder nach Störungen gegenseitig vertreten können (»Versicherungseffekt«). In artenreichen Lebensgemeinschaften sind einzelne Arten häufig gesünder und leistungsfähiger, weil ihre Krankheitserreger, Parasiten und Fressfeinde hier kleinere Populationen aufbauen (»Verdünnungseffekt«).
Aus diesen Gründen sind Monokulturen, wie sie in der Landwirtschaft und in Aquakulturen die Regel und auch in der Forstwirtschaft häufig sind, instabiler. Sie können nur unter hohem Einsatz an Energie und Chemie (Bearbeitung, Düngung, Pflanzenschutzmittel, Antibiotika) aufrechterhalten werden. Die positiven Auswirkungen der Artenvielfalt lassen sich vermutlich auch auf die Vielfalt der genetischen Varianten (Genotypen) innerhalb einer Art übertragen, die Datenlage ist jedoch nicht ausreichend.
9. Mit hoher biologischer Vielfalt steigt auch die Vielfalt an Ökosystemleistungen.
Für die gleichzeitige Bereitstellung mehrerer Ökosystemleistungen (»Multifunktionalität«) wird mehr biologische Vielfalt (Arten, funktionelle Gruppen oder Genotypen) benötigt als für die Optimierung einzelner Ökosystemleistungen. Ein Mehr an biologischer Vielfalt wird auch benötigt, wenn Ökosysteme ihre Leistungsfähigkeit angesichts einer variablen Umwelt über längere Zeiträume oder größere Flächen hinweg erbringen sollen. Eine multifunktionale, nachhaltige und ressourcenschonende Land- und Gewässernutzung ist also in besonderem Maße auf eine hohe biologische Vielfalt angewiesen. Ob die aktuellen Verlustraten von biologischer Vielfalt in naturnahen Ökosystemen Deutschlands deren Leistungsfähigkeit bereits schmälern, kann derzeit nicht mit Sicherheit gesagt werden.
10. Der Klimaschutz ist eine regulierende Ökosystemleistung, die besonders stark von der Artenvielfalt abhängt.
Artenreiche Wiesen legen im Vergleich zu artenarmen besonders viel des Treibhausgases CO₂ als organische Substanz im Boden fest. Artenreiche Wälder tun dies vor allem in den lebenden Bäumen und im Totholz – stärker als artenarme. Die biologische Vielfalt der Bodenorganismen steigert nicht nur die Mineralisierung von Nährstoffen im Boden, sondern fast immer auch dessen langfristige Kohlenstoffspeicherung. Darüber hinaus können artenreiche Wiesen und Wälder die Temperaturschwankungen am und im Boden besser abpuffern als artenarme. Artenreiche Wiesen und Wälder haben eine höhere Resistenz und Resilienz gegenüber Klimaextremen. Moore hingegen erbringen Klimaschutz mit wenigen, dafür für den Naturschutz wertvollen Arten.
Andere Regulationsleistungen, die nachweislich durch biologische Vielfalt gefördert werden können, sind der Erosionsschutz, die Wasserreinigung in Gewässern und Auen (Filtrierung, Abbauleistungen von organischer Substanz), die Blütenbestäubung und die Aufrechterhaltung der Nährstoffkreisläufe.
11. Zusätzlich zur Artenvielfalt können auch einzelne Schlüsselarten einen großen Beitrag zu Ökosystemleistungen erbringen.
Dabei handelt es sich um Arten, die durch ihre einzigartigen Anpassungen und Fähigkeiten als »Ökosystemingenieure« fungieren. Sie bilden Habitate für andere Arten und treiben bestimmte Prozesse mit besonders hoher Effizienz voran. Der Ausfall von Schlüsselarten hat überproportional starke negative Auswirkungen auf Ökosystemleistungen. Ein Beispiel sind die Seegräser der Küstenmeere, deren unterseeische Wiesen unter anderem Kinderstube für Fische und starke Senken für Kohlenstoff sind. Weitere Schlüsselarten sind z. B. Miesmuschel, Schilfrohr, Schwarzerle oder Biber sowie Specht- und Regenwurmarten.
Durch die Bereitstellung von Lebensraum für zahlreiche andere Arten erhöhen sich insgesamt die regulierenden Ökosystemleistungen. Einzelne Arten können jedoch auch negative Auswirkungen auf Ökosystemleistungen oder direkt für den Menschen haben (»Disservices«). Ein Anstieg von Disservices mit zunehmender biologischer Vielfalt ist nicht bekannt.
12. Biologische Vielfalt erbringt zahlreiche kulturelle Ökosystemleistungen.
Sie stärkt die mentale Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen und vermittelt ein Heimatgefühl, indem sie Menschen mit ihrer kulturgeschichtlichen Tradition verbindet. Sie dient als künstlerische und spirituelle Quelle und ist bedeutsam für den Tourismus. Vor allem in Städten verbessert die Vielfalt an Lebensräumen und Arten nachweislich das Wohlbefinden der Menschen. In Agrarlandschaften ist die Ästhetik der Landschaft stark von der Fülle an Blüten und vielfältigen Strukturen abhängig. Der Zugang zu Naturschutzgebieten oder Grünflächen in Städten führt zu einem tieferen Verständnis und damit einer höheren Wertschätzung der biologischen Vielfalt.
Was sind die Gründe für die Änderung der biologischen Vielfalt?
13. Historisch und bis in die Gegenwart hinein hat der Verlust von Lebensräumen maßgeblich die biologische Vielfalt in Deutschland verringert und verändert.
Die vorhandenen Erfassungen, die erst in den letzten Jahrzehnten begonnen haben, spiegeln daher eine bereits verarmte biologische Vielfalt wider und beginnen auf einem niedrigen Ausgangsniveau. In Landlebensräumen haben vor allem die Zerstörung und Zerschneidung von Habitaten zu einer Abnahme der biologischen Vielfalt beigetragen.
In der Agrar- und Offenlandschaft hat die Flurbereinigung durch die Entfernung von Hecken, Wegrändern und Kleingewässern die Habitatvielfalt stark verringert. Artenreiche Wiesen und Weiden wurden und werden für die Anlage von artenarmen Hochleistungsgrünländern oder für die Ackernutzung umgebrochen. Nahezu verschwunden sind baumarten- und strukturreiche historische Waldnutzungsformen wie Nieder-, Mittel- und Hutewälder, die für die Artenvielfalt von Insekten und Vögeln des Waldes eine große Bedeutung haben.
Die Entwässerung der Landschaft hat zum Verlust von Mooren, Feucht- und Nasswiesen sowie von Au-, Moor- und Bruchwäldern geführt. Fast alle Fließgewässer wurden durch Begradigung, Uferbefestigung, Entfernung von Ufergehölzen oder durch regelmäßige Entkrautung tiefgreifend verändert. Zahlreiche Wehre und andere Querbauwerke unterbrechen heute die Durchgängigkeit vieler Bäche und Flüsse, z. B. für wandernde Fische. Infolge des Rückstaus von Wehren flussaufwärts verlieren Fließgewässer ihre natürliche Struktur- und Strömungsvielfalt. Eindeichungen haben die Anbindung und Vernetzung der Auen stark eingeschränkt, was zu einem weitreichenden Verlust auentypischer Lebensgemeinschaften geführt hat. Die Eindeichung und Begradigung der Küste sowie die Landgewinnung haben den Übergang zwischen Land und Meer vollständig verändert und die natürliche Dynamik dieses Lebensraums großflächig zerstört.
Durch die zunehmende Verdichtung innerhalb von Städten sowie die Ausdehnung urbaner Räume gingen viele nicht versiegelte Flächen verloren, zu denen wichtige Sonderhabitate für die urbane Biodiversität zählen, wie Brachflächen, Industrienaturflächen und Gebiete urbaner Wildnis. In fast all diesen Fällen führte dieser Lebensraumverlust zu einem Rückgang der Artenvielfalt. Das Verschwinden von Lebensräumen setzt sich bis zum heutigen Tage fort.
14. Auch innerhalb von Lebensräumen hat sich eine Intensivierung der Nutzung, vor allem im Agrarland, aber auch generell in der Kulturlandschaft und in Gewässern, stark negativ auf die biologische Vielfalt ausgewirkt.
Zur Intensivierung zählen die Aufgabe von Fruchtfolgen, der vermehrte Maisanbau und Einsatz von Dünger, Pflanzenschutzmitteln und schweren Maschinen auf Ackerflächen, der Anbau von Kulturgräsern im Grünland und der Rückgang der extensiven Beweidung. Natürliche Waldstrukturen wurden über die letzten Jahrhunderte vielfach in Monokulturen und Altersklassenwälder umgewandelt, dem erst in jüngerer Zeit Förderprogramme entgegenwirken. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der Totholzanteil erhöht, dessen Mangel in der Vergangenheit stark negative Auswirkungen auf eine große Zahl der Arten hatte, die vom Totholz abhängig sind.
In Binnengewässern und in der Ostsee wirken sich vor allem der Eintrag von Nährstoffen und Pflanzenschutzmitteln aus landwirtschaftlich intensiv genutzten Flächen und die Fischerei negativ auf die biologische Vielfalt aus. In Städten wirkt sich die intensive Pflege öffentlicher Grünflächen sowie privater Gärten, z. B. durch häufiges Mähen und Mulchen, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln oder die zunehmende Versiegelung, auch durch Schottergärten, negativ auf die biologische Vielfalt aus. In Nord- und Ostsee haben vor allem die bodenberührende Fischerei, die Schifffahrt und der massive Ausbau von Offshore-Windanlagen negative Effekte auf verschiedene Artengruppen.
15. Der Klimawandel und damit verbundene extreme Wetterereignisse spielen eine zunehmend wichtige Rolle für Veränderungen der biologischen Vielfalt.
In Deutschland sind die Jahresdurchschnittstemperaturen seit Anfang der 1950er-Jahre um 1,8 °C angestiegen, in den deutschen Meeresgewässern seit 1969 um circa 1,5 °C. Das Ausmaß der Auswirkungen dieser Temperaturerhöhung auf die biologische Vielfalt in Deutschland ist bislang nicht in vollem Umfang abzuschätzen. Kältetolerante Arten sterben aus oder ziehen sich in höhere Lagen zurück. Arten mit hohen Temperaturansprüchen breiten sich aus und wandern von Süden herein. Der langfristige Nettoeffekt dieser beiden Prozesse auf die Artenzahl ist noch unklar.
Für die Agrar- und Offenlandschaft ist anzunehmen, dass der Klimawandel den negativen Einfluss der Nutzungsintensivierung, beispielsweise auf die Insektenvielfalt, noch verstärkt. Ebenso ändert sich das Beziehungsgeflecht zwischen Arten, wenn die Erwärmung die jahreszeitlichen Aktivitätsmuster von Interaktionspartnern, wie Blütenpflanze/Bestäuber oder Räuber/Beute, unterschiedlich stark verschiebt. Dies kann Aussterbeprozesse beschleunigen.
Extreme Trockenperioden gefährden schon heute die typische biologische Vielfalt der Moore, Feucht- und Nasswiesen, Binnengewässer, Quellen und des Grundwassers. Die Entnahme von Wasser für industrielle Prozesse, Trinkwassergewinnung und Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen führt lokal zur Austrocknung von Binnengewässern und zur Absenkung des Grundwasserspiegels in Auen. Dies gefährdet die biologische Vielfalt dieser Gebiete, inklusive der spezifischen Grundwasserfauna, und deren Ökosystemleistungen, z. B. bei der Reinigung von Grundwasser.
Die Trockenschäden unserer Wälder haben durch Auflichtung und den Anstieg des Totholzes bislang eine positive Wirkung auf die biologische Vielfalt. Langfristig könnte jedoch der Rückgang von Baumarten mit bedeutender Habitatfunktion für andere Arten und von Waldlebensraumtypen auch einen negativen Einfluss auf die biologische Vielfalt haben. Die meisten Städte sind schon heute stark vom Klimawandel betroffen, was sich durch einen zunehmenden Hitze- und Dürrestress, unter anderem in der hohen Mortalität von Stadtbäumen, zeigt.
16. Die Verschmutzung von Ökosystemen durch Abwasser, Industrie, Landwirtschaft und Verkehr hat direkte und indirekte negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt in Deutschland.
Zahlreiche Schadstoffe wie Pflanzenschutz- und Arzneimittel sowie deren Abbauprodukte, Mikroplastik und Schwermetalle sind mitunter schon in geringen Konzentrationen schädlich. Viele Schadstoffe verbleiben teilweise lange in den Ökosystemen und werden dort in den Nahrungsketten angereichert. Während sich die Menge eingesetzter Pflanzenschutzmittel in den letzten Jahrzehnten nur leicht erhöht hat, ist die Giftigkeit der verwendeten Substanzen für manche Artengruppen, wie Fische oder Bodenlebewesen, stark gestiegen.
Pflanzenschutzmittel gelangen auch in benachbarte Flächen und Gewässer, wo sie ihre giftige Wirkung entfalten. Der Eintrag von Nährstoffen aus der Landwirtschaft und in geringerem Maße aus Siedlungsabwässern in Gewässer kann zu einer Eutrophierung führen. Diese geht oft mit Sauerstoffarmut und toxischen Blaualgenblüten einher und verringert die biologische Vielfalt. Nur knapp 10 % der Flüsse, Seen und Küstengewässer in Deutschland befinden sich in einem guten ökologischen Zustand. Die Vielfalt an Pilzen und Pflanzen des Waldbodens wird durch Stickstoffeinträge aus der Luft reduziert. Zudem kommt es zu kombinierten Einträgen verschiedener Schadstoffe, die in ihren Wechselwirkungen besonders schädlich für die Bodenbiodiversität sein können.
17. Von den mindestens 1.015 in Deutschland etablierten gebietsfremden Arten gelten 107 als invasiv, das heißt, sie nehmen in ihrer Menge zu und zeigen eine expansive Ausbreitung.
Sie haben häufig einen negativen Effekt auf die einheimische Fauna und Flora sowie auf den Menschen. In Deutschland sind besonders große Flüsse und Küstengewässer von invasiven Arten betroffen. Diese wandern häufig über Flussmündungen und Kanäle ein oder werden über Schiffsverkehr und Aquakulturen eingeschleppt, was in Flüssen bereits zur Verdrängung einheimischer Arten geführt hat.
In Landlebensräumen sind in der Gruppe der Gefäßpflanzen verwilderte Gartenpflanzen, wie die Gartenbrombeere, Staudenknöteriche oder Herkulesstaude, sowie bei den Säugetieren verwilderte Pelztiere wie Waschbär und Nutria von Bedeutung.
Zudem haben unter anderem eingeschleppte Pilzkrankheiten eine große Relevanz. Sie bedrohen heimische Baumarten und damit die von ihnen abhängigen Lebensgemeinschaften und haben auch einen direkten Einfluss auf Tiere, insbesondere Amphibien und Insekten. Allerdings ist der Wissensstand über die Auswirkungen auf Letztere mangelhaft.
Neben den negativen Auswirkungen auf heimische Artengemeinschaften können invasive Arten auch förderlich für die biologische Vielfalt sein, was vor allem in Städten und Industriebrachen der Fall ist.
18. Die Wirkungen verschiedener Treiber der Veränderung der biologischen Vielfalt können einander verstärken.
So ist z. B. bekannt, dass Sauerstoffmangel infolge von Abwassereinleitungen bei einem gleichzeitigen Rückstau von Fließgewässern stärker ausfällt. Die extreme Dürre in den Jahren 2018–2020 und 2022 hat Bäume so stark geschwächt, dass die Schadwirkung invasiver Pilzarten verstärkt wurde. Bienen werden stärker von Pflanzenschutzmitteln geschädigt, wenn sie keinen Zugang zu vielfältigen Blütenressourcen haben. Aufgrund der Komplexität und Vielzahl möglicher Wechselwirkungen sind Vorhersagen derzeit mit starken Unsicherheiten behaftet.