Wirtschaftsgeschichte

Aneignung, Profit, Wachstum: So funktioniert der Kapitalismus

Nur durch Wirtschaftswachstum können wir Wohlstand schaffen – diese Binsenweisheit stellt den Kapitalismus gerne als einzige Wirtschaftsform dar, die dem Wohle der Gesellschaft dient. Doch stimmt das überhaupt? Jason Hickel hat da so seine Zweifel und erklärt im folgenden Auszug aus seinem Buch »Weniger ist mehr«, was die eigentlichen Ziele des Kapitalismus sind und über welche Mechanismen er funktioniert.

22.03.2022

Aneignung, Profit, Wachstum: So funktioniert der Kapitalismus | Postwachstum Degrowth Kapitalismus

Ich kann mich noch erinnern, wie ich in der Schule zum ersten Mal etwas über die Geschichte des Kapitalismus erfuhr. Das war eine unbeschwerte Erzählung, die mit der Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert begann und sich dann durch ein Defilee technologischer Innovationen arbeitete, vom fliegenden Schiffchen bis hin zum Privatcomputer.

Ich weiß noch, wie ich die Hochglanzbilder im Schulbuch bewunderte. Wenn es nach dieser Erzählung geht, dann ist Wirtschaftswachstum eine Art Geldquelle, die aus der Technologie selbst entspringt. Es ist eine ganz wunderbare Geschichte, und sie hinterlässt bei uns den hoffnungsfrohen Eindruck, mit der richtigen Technologie könnten wir Wachstum mehr oder weniger aus dem Nichts gewinnen.

Wenn wir uns aber die Geschichte des Kapitalismus in voller Länge vor Augen führen, dann wird klar, dass bei dieser Erzählung etwas fehlt. Enclosure, Kolonialisierung, Vertreibung, Sklavenhandel … historisch gesehen ist Wachstum schon immer ein Prozess der Aneignung gewesen: der Aneignung von Energie und Arbeit aus der Natur und von (bestimmten) Menschen.

Höher, schneller, weiter: Die Geschichte des Kapitalismus

Ja, der Kapitalismus brachte einige außergewöhnliche technologische Innovationen voran, und diese Innovationen lösten eine außergewöhnliche Beschleunigung des Wachstums aus. Allerdings besteht der wesentliche Beitrag, den die Technologie zum Wachstum leistet, nicht darin, dass sie Geld aus dem Nichts produziert, sondern dass sie dem Kapital die Möglichkeit eröffnet, den Prozess der Aneignung auszudehnen und zu intensivieren. (1)

Das war bereits lange vor der Dampfmaschine der Fall. Schon in den frühen 1500er-Jahren erlaubten Innovationen bei der Zuckermühlentechnologie den Plantagenbesitzern, mehr Land für den Zuckeranbau zu nutzen, als sie andernfalls hätten verarbeiten können. Ebenso gab die Erfindung der Egreniermaschine den Produzenten die Möglichkeit, die Baumwollmonokultur auszuweiten. Neue windgetriebene Pumpen wurden bei der Trockenlegung der wilden Moorgebiete in Europa eingesetzt, wodurch weite Landstriche für den Ackerbau erschlossen wurden. Die Entwicklung größerer Hochöfen erlaubte schnellere Eisenverhüttung, was dann wieder den Weg frei machte für mehr Bergbau. Zum Befeuern der Öfen musste wiederum der Holzeinschlag gesteigert werden, bis zu dem Punkt, dass weite Bereiche der europäischen Wälder für die Eisenproduktion gefällt wurden. Die Macht der Technologie besteht darin, dass sie Kapital und Arbeit in die Lage versetzt, produktiver zu sein – mehr und schneller zu produzieren. Sie intensiviert aber auch die Inbesitznahme von Natur.

Im 19. und 20. Jahrhundert beschleunigte sich dieser Prozess durch die Entdeckung von Lagerstätten fossiler Energien in großem Maßstab – zuerst Kohle und dann Öl – sowie durch die Erfindung von Technologien (wie der Dampfmaschine) für deren Abbau und Nutzung. Ein einziges Fass Rohöl kann rund 1.700 Kilowattstunden Arbeit leisten. Das entspricht viereinhalb Jahren menschlicher Arbeit. Aus der Sicht des Kapitals hatte das Anzapfen der unterirdischen Ölseen die gleiche Bedeutung wie eine zweite Kolonialisierung der Amerikas oder auch wie ein zweiter Sklavenhandel über den Atlantik – eine Goldgrube, eine unerwartete Gelegenheit zur Inbesitznahme.

Es heizte aber auch den Prozess der Aneignung als solchen an. Die Energie fossiler Brennstoffe wird eingesetzt für Riesenbohrer beim Bergbau in größere Tiefen, für mit Netzen ausgestattete Fangschiffe zum Tiefseefischen, für die Traktoren und Mähdrescher der intensivierten Landwirtschaft, für Kettensägen zum schnelleren Abholzen, dazu noch für Schiffe, Lastkraftwagen und Flugzeuge, um all das Material in schwindelerregender Geschwindigkeit rund um die Welt zu transportieren. Dank der Technologie ist der Aneignungsprozess exponentiell schneller und expansiver geworden.

Wir können diese Beschleunigung in der atemberaubenden Geschwindigkeit gespiegelt sehen, mit der das BIP im Lauf des letzten Jahrhunderts in die Höhe geschossen ist. Es wäre allerdings ein Fehler, würde man dieses Wachstum als von fossilen Brennstoffen und Technologie getrieben betrachten. Es wurde durch fossile Brennstoffe und Technologie ermöglicht, das ist richtig; wir müssen uns aber die Frage stellen: Was ist denn gewissermaßen die tiefere Motivation, die das kapitalistische Wachstum vorantreibt?

Das Leben ist kein Bauernmarkt: Das stahlharte Gesetz des Kapitals

Vor einiger Zeit befand ich mich vor Livepublikum auf einem Podium in einer vom Fernsehen übertragenen Debatte; es ging um die Zukunft des Kapitalismus. Mein Kontrahent stand auf und erklärte, am Kapitalismus als solchem sei nichts auszusetzen. Das Problem besteht darin, sagte er, dass der Kapitalismus durch gierige CEOs und käufliche Politiker korrumpiert ist. Wir müssen uns lediglich um die faulen Äpfel kümmern und alles wird gut werden.

Schließlich geht es beim Kapitalismus im Grunde um nichts anderes, meinte er, als dass die Leute Sachen auf dem Markt kaufen und verkaufen – wie auf dem Bauernmarkt um die Ecke oder in einem Souk in Marokko. Das sind alles friedliche Menschen, die ihre Fähigkeiten nutzen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen; was kann daran schon schlecht sein? Das ist eine nette Geschichte und klingt einigermaßen vernünftig.

Aber in Wahrheit hat dieses Bild von den kleinen Geschäften auf dem Bauernmarkt und im Souk nichts mit dem Kapitalismus zu tun. Die Analogie ist falsch. Und sie hilft uns nicht weiter, wenn wir verstehen wollen, warum der Kapitalismus zur ökologischen Katastrophe führt. Wenn wir wirklich verstehen wollen, wie der Kapitalismus funktioniert, müssen wir ein bisschen tiefer bohren.

Tauschwert statt Gebrauchswert

Zuerst einmal gilt es zu erkennen, dass fast die ganze Geschichte der Menschheit hindurch die Wirtschaftssysteme um das Prinzip des »Gebrauchswerts« herum organisiert waren. Ein Bauer züchtet vielleicht eine Birne, weil man ihren süßen, saftigen Geschmack mag oder weil sie am Nachmittag erst einmal den gröbsten Hunger stillt. Ein Handwerker baut vielleicht einen Stuhl, weil man darauf gut sitzen kann: um auf der Veranda zu entspannen oder eine gemeinsame Mahlzeit am Tisch zu genießen. Und vielleicht verkaufen sie diese Dinge, um Geld für den Kauf anderer nützlicher Dinge zu bekommen, etwa einer Hacke für den Garten oder eines Taschenmessers für die Tochter.

Eigentlich ist das ja die Art und Weise, wie die meisten von uns heutzutage am Wirtschaftsleben teilnehmen. Wenn wir in den Laden gehen, dann meistens, um etwas zu kaufen, was für uns von Nutzen ist, wie Zutaten zum Abendessen oder eine Jacke als Schutz gegen die winterliche Kälte.

Diese Art von Wirtschaft können wir wie folgt zusammenfassen, wobei W für Ware steht (wie Stuhl oder Birne) und G für Geld:

W1  G W2

Das sieht auf den ersten Blick eigentlich wie eine gute Beschreibung des Kapitalismus aus – freier Austausch von nützlichen Dingen zwischen Individuen. So wie auf dem Bauernmarkt oder im Souk. In Wirklichkeit gibt es hier aber gar nichts, was speziell kapitalistisch ist. Das könnte jedes beliebige Wirtschaftssystem sein, zu jeder beliebigen Zeit an jedem beliebigen Ort in der Menschheitsgeschichte.

Was den Kapitalismus von anderen Systemen unterscheidet, ist die Tatsache, dass der Wert für Kapitalisten nach ganz anderen Kriterien berechnet wird. Mag sein, dass der Kapitalist den Nutzen von Dingen wie Stühlen oder Birnen durchaus erkennt; wenn er sie aber produziert, dann geht es nicht darum, ein hübsches Plätzchen zum Sitzen zu haben oder einen leckeren Nachmittagsimbiss, es geht nicht einmal darum, sie im Austausch für andere Dinge zu verkaufen.

Das Ziel ist, sie für den einen Zweck zu produzieren und zu verkaufen, der über allem anderen steht: Profit zu machen. In diesem System geht es um den »Tauschwert« der Dinge, nicht um ihren Gebrauchswert. (2)

Das lässt sich wie folgt darstellen, wobei das Prime-Zeichen (′) ein Anwachsen in der Quantität bedeutet:

G  W  G′

Dies ist das genaue Gegenteil einer Gebrauchswertökonomie. Aber hier wird es jetzt spannend. Im Kapitalismus genügt es nicht, einen gleichbleibenden Profit zu machen. Ziel ist, diesen Profit zu reinvestieren, um den Produktionsprozess auszuweiten und noch mehr Profit zu generieren als im Jahr zuvor.

Das lässt sich wie folgt darstellen:

G W G′ W′ G′′ W′′ G′′′ …

Vom Profit zum Kapital zum unendlichen Wachstum

Um zu verstehen, was sich hier abspielt, müssen wir zwischen zwei Arten von Unternehmen unterscheiden. Denken Sie an das Restaurant um die Ecke: Es macht am Ende des Jahres Gewinn, aber die Besitzer*innen sind zufrieden, wenn sie jedes Jahr mehr oder weniger den gleichen Gewinn machen – genug, um die Miete zu bezahlen, für die Familie Essen auf den Tisch zu bringen und vielleicht auch im Sommer in den Urlaub zu fahren.

Ein solches Geschäft hat vielleicht Teil an Elementen der kapitalistischen Logik (Löhne bezahlen, Gewinn machen); aber es ist nicht kapitalistisch im eigentlichen Sinn, weil der Gewinn letztendlich um eine gewisse Vorstellung von Gebrauchswert herum organisiert ist. So funktioniert die große Mehrheit der kleinen Betriebe. Läden dieser Art gab es schon Jahrtausende lang, bevor der Kapitalismus entstand.

Jetzt stellen Sie sich einen Konzern wie Exxon oder Facebook oder Amazon vor. Ein Konzern arbeitet nicht nach der stationären Methode, die das Restaurant um die Ecke verfolgt. Die Gewinne von Amazon sind nicht nur dafür da, Jeff Bezos Essen auf den Tisch zu bringen – sie fließen in die Erweiterung des Unternehmens und dienen dazu, Wettbewerber aufzukaufen, örtliche Geschäfte aus dem Markt zu drängen, in neue Länder einzudringen, noch mehr Verteilungszentren zu bauen, Marketingkampagnen hochzuziehen, damit die Leute Zeug kaufen, das sie nicht brauchen, und das alles, um jedes Jahr noch mehr Gewinn zu machen als im Jahr zuvor.

Es ist ein selbstverstärkender Kreislauf – eine sich ständig beschleunigende Tretmühle: Geld wird Profit wird noch mehr Geld wird noch mehr Profit. Und hier erkennen wir allmählich, was das Besondere am Kapitalismus ist. Für Kapitalisten ist Profit nicht einfach nur Geld am Ende des Tages, um damit ein spezielles Bedürfnis zu befriedigen – der Profit wird zu Kapital.

Und Sinn und Zweck des Kapitals ist, dass es reinvestiert werden muss, um noch mehr Kapital zu erzeugen. Dieser Prozess hat kein Ende – er expandiert einfach immer weiter. Anders als beim Restaurant um die Ecke, das sich auf die Befriedigung bestimmter konkreter Bedürfnisse konzentriert, lässt sich für den Prozess der Akkumulation von Tauschwert kein Endpunkt identifizieren. Er hat grundsätzlich nichts mehr mit irgendeiner Vorstellung von menschlichen Bedürfnissen zu tun.

Wenn man sich die Formel oben anschaut, dann wird klar, dass sich das Kapital ein Stück weit wie ein Virus verhält. Ein Virus ist Teil eines genetischen Codes, der so programmiert ist, dass es sich repliziert. Das kann es aber nicht aus eigenen Stücken: Es muss eine Wirtszelle infizieren und diese Zelle dazu bringen, dass sie Kopien seiner DNA herstellt, und dann infiziert jede dieser Kopien weitere Zellen, um noch mehr Kopien herzustellen, und so weiter. Der einzige Zweck eines Virus ist die Replikation seiner selbst.

Das Kapital ist ebenfalls auf einem selbstreplizierenden Code aufgebaut, und wie ein Virus möchte es alles, was es berührt, in eine selbstreplizierende Replikation seiner selbst verwandeln – in noch mehr Kapital. Das System wird zu einem Moloch, zu einer nicht aufzuhaltenden Maschine, die auf unendliche Expansion programmiert worden ist.

Anmerkungen

(1) Jason W. Moore: »The Capitalocene Part II. accumulation by appropriation and the centrality of unpaid work/energy«, in: Journal of Peasant Studies 45 (2), 2018, S. 237–279.

(2) Ich entnehme diese Konzepte von Gebrauchswert und Tauschwert – und die allgemeine Formel der Kapitalakkumulation – aus Karl Marx: Das Kapital. Für Details zu dem Verhältnis von Kapital und ökologischem Zusammenbruch vgl. Foster und Clark: »The planetary emergency« , in: Monthly Review, 2012.

Dieser Beitrag stammt aus 

Warum der Kapitalismus den Planeten zerstört und wir ohne Wachstum glücklicher sind

»Selten hat das genaue Hinschauen so viele Aha-Momente parat wie bei der Lektüre von Jason Hickel.« Maja Göpel

»Er schreibt elegant, er hat Temperament und er ist skrupellos.« ...   

Mehr zum Autor 

Jason Hickel ist Anthropologe und lehrt an der London School of Economics. Geboren in Eswatini (ehem. Swasiland) verbrachte er einige Jahre in Südafrika, um die sozialen Folgen der Apartheid zu erforschen. Hickel schreibt ...

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