Die Zerlegung eines Systems
In ihrer Kolumne für das Slow Food Magazin warf Ursula Hudson stets einen kritischen Blick auf die Lebensmittelindustrie und die aktuellen Trends der Ernährungskultur. Am 10. Juli ist die Vorsitzende von Slow Food Deutschland e.V. verstorben. In ihrer letzten Kolumne widmete sie sich der Coronakrise und dem Skandal bei Tönnies – und verlieh einmal mehr ihrer Überzeugung Ausdruck, dass gute, saubere und faire Lebensmittel eine zentrale Rolle spielen auf dem Weg zu einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft.
15.07.2020
Der tiefe Fall der Fleischindustrie
Das Jahr 2020 ist für uns alle ein besonderes und außergewöhnliches. Es durchkreuzt viele unserer Gewohnheiten, somit auch die der ausgedehnten Grillabende mit Freunden und Familie an lauen Sommerabenden. Nicht nur, weil sich viele von uns aufgrund der anhaltenden Pandemie bemühen, größere Zusammenkünfte zu meiden. Sondern auch, weil Deutschlands größter Schlachtbetrieb zur Virenschleuder wurde und dem einen oder anderen die Lust auf Fleisch verdirbt. Die Ausbreitung des Coronavirus in Schlachthöfen legt den Finger in die »Wunde« eines Systems, welches die Bedürfnisse von Mensch und Tier der Gier nach Profit und Macht untergeordnet hat. Kleine, handwerklich und regional arbeitende Schlachthöfe wurden eliminiert und wichen Fabriken, in denen sich Mensch und Mensch sowie Mensch und Tier voneinander entfremdet haben. Fairness gegenüber denjenigen, die unsere Lebensmittel erzeugen, fliegt seither vielerorts unter dem Radar (vom Tierwohl einmal ganz zu schweigen).
Slow Food sensibilisiert seit der ersten Stunde für diesen systemimmanenten Mangel. Denn die jetzt beäugten ausbeuterischen Umstände des Billigfleisch-Systems sind nicht neu; doch liegt in ihnen eine besondere Tragik. Sie rührt aus der Fallhöhe derer, die den Markt der industriellen Fleischwirtschaft bestimmen. Denn ausgefochten wird der gnadenlose Preiskampf zwischen einigen wenigen, dafür zu großen Unternehmen, die, statt Menschen der eigenen Region zu versorgen, für den bundesdeutschen und internationalen Markt produzieren. Und wir kennen das aus Shakespeares Tragödien: Je größer und mächtiger die »Helden«, desto tiefer und härter ihr Fall.
In Zeiten von Corona nimmt das schwindelerregende Ausmaße an, gefährdet ganze Regionen und die Existenz zahlreicher Menschen. Nicht minder tragisch ist die Tatsache, dass die verheerenden Missstände bislang so recht niemandem den Appetit verdarben. Dass ein Kilo Schweine-Spare-Ribs unter fünf Euro sowohl auf dem Rücken von Tieren als auch auf dem Rücken von Menschen ausgetragen wird, ist eine einfache Rechnung. Miese Bezahlung, teils unwürdige Unterbringung und fragwürdige hygienische Verhältnisse – zahlreiche Arbeiter in Deutschlands Fleischverarbeitungswerken sind verheerenden Bedingungen ausgesetzt. Das hat diese überhaupt erst zu Corona-Brutstätten gemacht. Corona legt offen, wovor so manch einer auf infantile Art und Weise die Augen verschlossen hat, und führt den für Mensch, Tier und Umwelt unwürdigen, aber politisch geduldeten »Geschmack« öffentlich vor. Nun schwebt das Damoklesschwert über unserem Lebensmittelsystem.
Die Stunde der guten, sauberen und fairen Ernährung
Als Systemkritiker könnte sich Slow Food an dieser Entlarvung nun laben. Darum aber geht es uns nicht. Vielmehr möchten wir die Gesellschaft dazu ermutigen sowie die politisch Verantwortlichen dazu auffordern, aus den aktuellen Skandalen zu lernen, um die alten Muster zu überwinden. Ganz offenbar wird die Corona-Pandemie immer mehr zu einer »Slow-Food-Stunde«; insofern, als dass sie uns in unseren Zielen und holistischen Bestrebungen bestätigt. Denn wir fordern nicht nur geschmacklich, gesundheitlich und ökologisch einwandfreie Lebensmittel, sondern auch, dass diese zu fairen Bedingungen für Mensch und Tier erzeugt, weiterverarbeitet, gehandelt und zubereitet werden.
Rechtliche Rahmenbedingungen in Form von Gesetzen und strengen Kontrollen müssen genau diese Art der Produktion flankieren. Natürlich auch angemessene Lebensmittelpreise, sie allein aber können das System nicht richten. Deswegen geht uns auch die Tierwohlabgabe nicht weit genug. Sie allein wird weder erreichen, dass die Menge an tierischen Erzeugnissen auf das erforderliche Maß sinkt, noch garantieren, dass der Profit an richtiger Stelle investiert wird: für Mensch und Tierwohl. »Fairness« gehört zur Quintessenz unseres Vereins. Das heißt, ein Lebensmittel kann sensorisch noch so hervorragend sein, wenn es ethisch nicht einwandfrei zu uns gelangt, ist es für uns »ungenießbar«. Und es bestätigt sich mir aktuell einmal mehr, dass »Fairness« im Sinne von Slow Food innerhalb Deutschlands weder konsequent genug verfolgt noch rechtlich verankert ist.
Doch statt vor der eigenen Haustüre zu kehren, schauen wir nur allzu gerne mit kritischem Blick in andere Länder. Dabei müssen wir auch bei uns selber beginnen und unser Lebensmittelsystem ändern, sodass es Gerechtigkeit einkalkuliert und bepreist. Statt Mensch und Tier in ein System hineinzupressen, in das sie nicht passen, müssen wir Strukturen fördern, die ihre Bedürfnisse respektieren. Dafür müssen wir die Versäumnisse der letzten Jahre rückgängig machen. Wir müssen bei Haltung ebenso wie bei Schlachtung Größen und Mengen reduzieren, damit die rechte Hand wieder weiß, was die linke tut, damit verantwortlich und würdevoll umgegangen wird mit allem, was lebt.
Planeten-, Tier- und Menschenwohl sind mit Wirtschaftlichkeit vereinbar. Das beweisen Vorzeigebetriebe bundesweit. Sie sind Teil unseres Slow-Food-Netzwerks. Nun brauchen wir eine Politik, die bereit ist, sie zu fördern. Bislang passiert das nur marginal. Wenn aber nun das Große nachgibt, hat das Kleine wieder die Chance zu wachsen und gebraucht zu werden. Und das gilt für alle Produktionszweige, nicht nur für Fleisch.
Bleiben Sie weiterhin engagiert, kritisch und genussfreudig,
Ihre Ursula Hudson