Scheitert die Klimaneutralität am Personalmangel?
Vom Ausbau Eneuerbarer Energien bis zur Gebäudesanierung – um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, benötigt es einen gesamtgesellschaftlichen Kraftakt. Alle guten Vorsätze könnten jedoch aus verschiedenen Gründen am Personalmangel scheitern. Die Zeit zum Gegensteuern drängt. Von Martin Oldeland.
01.08.2022
Klimaneutralität ist nicht nur ein Schlagwort, sondern elementarer Teil eines notwendigen Transformationsprozesses. Wir spüren den Klimawandel und seine viel-fältigen Folgen, wachsende Schäden durch Extremwetterereignisse immer mehr, auch vor unserer eigenen Haustür. Dabei nehmen nicht nur die Sachschäden, sondern auch Verluste an Menschenleben sowie klimabedingte Gesundheitsrisiken zu.
»Zukunft ist die Ausrede all jener, die in der Gegenwart nichts tun wollen.« |
Klimaneutralität ist ein politisches Thema, von der internationalen Ebene der großen Klimakonferenzen bis hin zur nationalen Ebene mit ihren entsprechenden Umsetzungszielen. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung für die Legislaturperiode ab 2021 steht das Jahr 2045 als Ziel der Klimaneutralität, mit Hinweis auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2021. Es ist dort auch zu lesen, dass auf dem Weg zur Klimaneutralität alle Sektoren ihren Beitrag zum Erreichen der Klimaziele leisten müssen. Der Druck ist also groß, und die Herausforderungen sind ebenso groß wie vielfältig. Bei den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen, die auch ein Klimaziel beinhalten (SDG 13), sind wir von 2021–2030 in der »Dekade des Handelns«, zu der UN-Generalsekretär António Guterres aufgerufen hat. Aber: Wie stark ist denn unser Handeln? Wie sieht der Masterplan inklusive klarer Verpflichtungen und Sanktionsmöglichkeiten aus? Und gibt es echte Sanktionsmöglichkeiten?
Haben wir noch zeitlichen Spielraum?
Der IPCC-Bericht spricht eine deutliche Sprache: Das 1,5-Grad-Ziel scheint realistisch kaum noch erreichbar, wenn wir nicht sehr deutlich die Umsetzung von Maßnahmen intensivieren und deren Tempo erhöhen. Der Weg zur Klimaneutralität ist keine Wunschvorstellung, sondern, bezogen auf die Wirtschaft, notwendiger Teil einer klugen Unternehmensstrategie. Wollen wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen, müssen wir die Emissionen bis 2030 um 135 Prozent im Vergleich zum Referenzjahr 1990 reduzieren. Überkompensation, manche sprechen schon von Klimapositivität, ist angezeigt.
Mit Glasgow 2021, der COP26, liegt ein weiterer Weltklimagipfel hinter uns: wieder einmal eine große Show mit Kompromissen und Versprechen, aber ohne wirkliche Lösungen und die notwendigen großen Schritte voran für eine echte Zukunftssicherung. Mit der Einstufung von Atom- und Gasenergie als »grüne Energie« durch die EU-Kommission macht diese das Instrument einer europäischen Taxonomie für Nachhaltigkeit unglaubwürdig. Das große Projekt des EU-Green-Deal wird ebenso Schaden nehmen. Wird die neue Bundesregierung einen Durchbruch beim Thema Klima schaffen, oder sind die Unterschiede der Ampelpartner und die notwendigen Rücksichtnahmen zu groß?
Wegen der bekannten und nicht zu widerlegenden Probleme und Risiken bei der Atomkraft sollten wir nicht über deren Renaissance nachdenken, sondern schleunigst den Ausbau der erneuerbaren Energien vorantreiben. Gleichzeitig können wir die immer noch enormen und wirtschaftlich interessanten Energieeinsparpotenziale nutzen. Beides, der Ausbau von erneuerbaren Energien und die Nutzung von Energieeinsparpotenzialen, schaffen positive wirtschaftliche Effekte und tragen zur Sicherung bestehender bzw. Schaffung neuer Arbeitsplätze bei.
Fokus Gebäudesanierung
Schauen wir auf den sehr bedeutsamen Bereich der energetischen Gebäudesanierung: Gebäude stehen für rund 35 Prozent des Endenergieverbrauchs und 30 Prozent der CO2-Emissionen. [1] Um die international vereinbarten Klimaziele einzuhalten, strebt die deutsche Politik u. a. einen klimaneutralen Gebäudebestand bis zum Jahr 2050 an. 2020 hatten wir ca. 19 Mio. Wohngebäude in [2] Allein bei den Heizsystemen sind 24,2 Prozent älter als 25 Jahre, 28,7 Prozent zwischen 15 und 15 Jahren und nur 18,4 Prozent unter 5 Jahre alt (Quelle: BDEW-Studie »Wie heizt Deutschland?« 2019). [3] Weitere Potenziale liegen z. B. in der Optimierung der Wärmedämmung in den Gebäuden.
Dies sind alles Investitionen, die zum größten Teil eine sehr lange Einsatzzeit haben: Wenn heute ein Heizsystem ausgetauscht wird, wird diese Anlage voraussichtlich in den nächsten 20 Jahren nicht mehr angefasst. Sie wird also 20 Jahre lang keine neuen Beiträge zur Energieeffizienz leisten, sondern auf dem technologischen Stand von heute arbeiten. Daher müssen wir schon heute mit den verfügbaren Technologien und Materialien ein Maximum an CO2-Einsparungen erreichen, wenn wir 2045 klimaneutral sein wollen. Unsere heutigen Investitionsentscheidungen spielen hierfür eine sehr gewichtige Rolle.
Problemfeld Personalmangel
Die angesprochenen notwendigen Modernisierungsmaßnahmen benötigen neben Technik und verfügbaren Materialien auch personelle Ressourcen. Hauseigentümer*innen benötigen z. B. Energieberatungen und ausführendes Handwerk. Beides ist derzeit aber vielfach knapp. Es fehlt Personal auf allen Ebenen, in den Genehmigungsbehörden, bei den Energie- bzw. Gebäudeenergieberater*innen und vor allem auch beim ausführenden Handwerk.
Auch der demografische Faktor wird immer deutlicher sichtbar. Die Gesellschaft wird älter. Altgesellen im Handwerk gehen in den Ruhestand, Nachwuchs fehlt. »Man muss ehrlich sein, wir haben eben ein demographisches Problem, es kommen immer weniger junge Menschen nach, wir haben eine zunehmende Anzahl von Schulabbrechern, die dann eben auch keine Lehre machen können oder nicht so leicht eine Lehre machen können, das kommt hinzu. Wer den Handwerkermangel bekämpfen will, muss bei der Schulbildung anfangen«, so Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin. [4]
Wer soll also die vielen Arbeiten erledigen, die für die Erreichung der Klimaneutralität notwendig sind? Die Energiewende in Gebäuden erfordert bis zu 130.000 zusätzliche Arbeitskräfte. Allein in den Branchen Sanitär, Heizung, Klima (SHK) werden zusätzlich bis zu 20.000 Beschäftigte benötigt. Dem SHK-Handwerk gehen aber die Fachkräfte aus, und zu allem Überfluss halten viele Jugendliche eine Ausbildung im Handwerk für nicht sehr attraktiv. »Wenn wir nicht genügend Handwerksbetriebe und Fachkräfte haben, die das umsetzen, was wir in der Politik beschließen, dann wird jedes Ziel, das wir uns vorgenommen haben, nicht erreichbar sein«, [5] stellte auch Thomas Bareiß fest, bis 2021 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium. Alle weiteren neuen rechtlichen Regelungen für mehr Klimaschutz und Energieeinsparung sowie immer mehr zur Verfügung gestellte Fördermittel z. B. über die KfW nützen nichts, wenn – überspitzt gesagt – keiner die Mittel abfordern und abarbeiten kann.
Die Jugend geht nicht nur berechtigterweise mit Fridays for Future auf die Straße und fordert mehr Aktivitäten und Geschwindigkeit bei der Bekämpfung des Klimawandels. Sie wird sich auch Gedanken machen über den eigenen weiteren Weg. Es geht um Berufswünsche und Berufschancen, um Möglichkeiten, durch die Wahl eines Berufs selbst aktiv etwas für mehr Klimaschutz und Zukunftsfähigkeit zu tun. Das Feld interessanter und auch attraktiver Berufsfelder im Bereich Klima- und Umweltschutz ist groß und äußerst zukunftsfest. Hier nur ein paar Beispiele:
- Anlagenmechaniker*in für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik
- Elektroniker*in – Fachrichtung Energie- und Gebäudetechnik
- Solarteur*in/Techniker*in Windenergietechnik
- Energieberater*in
- Gebäudeenergieberater*in
- Umweltschutztechniker*in
Wie attraktiv sind diese Berufe?
Zukunft in die Hand nehmen
Das Thema Personalmangel bzw. die Suche nach Nachwuchs kann auch intelligent gestaltet werden. Hierzu ein interessantes Beispiel des SHK-Meisterbetriebs Kohl Wasser + Wärme aus Bobingen. Durch attraktive Weiterbildungen, faire Arbeitszeiten und eine leistungsgerechte Bezahlung sichert sich das Unternehmen die benötigten Fachkräfte. »Immer mehr junge Leute denken, dass sie studieren müssen, um etwas aus ihrem Leben zu machen. Wir zeigen ihnen, dass das auch im SHK-Handwerk geht, geben ihnen Freiheiten, Verantwortung, Aufstiegschancen. Und das bei Arbeitszeiten, von denen zum Beispiel ein Marketingmanager bei vergleichbarer Bezahlung wie einer unserer Meister nur träumen kann«, so Geschäftsführer Albert Kohl. [6]
Es ist notwendig, über die bisherigen Maßnahmen hinaus mehr zu tun, um die Attraktivität des Handwerks zu steigern und die Entwicklungschancen in den Berufen darzustellen. Hier sind viele Akteurinnen und Akteure gefordert, nicht nur das Handwerk selbst.
»Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben.« |
Wir dürfen die Klimaneutralität nicht durch fehlendes Personal scheitern lassen! Es braucht jetzt eine massive Offensive für Berufe im Klima- und Umweltschutz, denn es dauert selbstverständlich Jahre, bis aus Ausbildung, Umschulungen oder Weiterbildungen die Zahl an Fachkräften hervorgeht, die benötigt wird. Wir müssen dabei auch die Abgänge durch Ruhestand oder aus anderen Gründen überkompensieren. Es gibt viel interessante Arbeit und Arbeitsplätze im Zusammenhang mit Umwelt- und Klimaschutz. Wir müssen sie attraktiver machen und auch das Ansehen der Berufe steigern.
Anmerkungen
1 Umweltbundesamt (2020): Energiesparende Gebäude [https://www.umweltbundesamt.de/themen/klima-energie/energiesparen/energiesparende-gebaeude#gebaude-wichtig-fur-den-klimaschutz].
2 Statista (2022): Anzahl der Wohngebäude in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2020 [https://de.statista.com/statistik/daten/studie/70094/umfrage/wohngebaeude-bestand-in-deutschland-seit-1994].
3 BDEW (2019): Wie heizt Deutschland [https://www.bdew.de/media/documents/Pub_20191031_Wie-heizt-Deutschland-2019.pdf].
4 Deutschlandfunk (2021): Fachkräftemangel. Wie das Handwerk gegen die Personalnot kämpft [https://www.deutschlandfunk.de/fachkraeftemangel-wie-das-handwerk-gegen-die-personalnot-100.html].
5 Ebd.
6 Kohl (2018): Der Fachkräftemangel ist das Beste, was uns passieren konnte [https://www.kohl-online.de/2018/01/20/neue-mitarbeiter-2017/].