Gastronomie

Nachhaltigkeit und Regionalität zahlen sich aus – Interview zum »Slow Food Genussführer«

Das Warten hat ein Ende: der »Slow Food Genussführer« ist wieder da! Er stellt Restaurants in ganz Deutschland vor, die sich durch echtes Kochhandwerk auszeichnen: Essen ohne Geschmacksverstärker und Zusatzstoffe, mit Lebensmitteln frisch aus der Region und handwerklich zubereitet. Über die Spuren der Coronapandemie in der nachhaltigen Gastronomie berichtet der Leiter des Herausgeberteams Wieland Schnürch im Interview und verrät, welches Gericht man im neuen »Genussführer« nicht verpassen sollte.

05.09.2022

Nachhaltigkeit und Regionalität zahlen sich aus – Interview zum »Slow Food Genussführer« | Ernährung Slow Food Gastronomie

Nach 4 Jahren Pause ist der Genussführer wieder zurück – wurde das bei Slow Food ausgiebig gefeiert, Herr Schnürch?

Die Arbeiten für das Buch waren zuallererst einmal eine riesige Kraftanstrengung für unsere Testerinnen und Tester. Deren Tätigkeit, die während Corona ziemlich darnieder lag, weil eine seriöse Bewertung der Gaststätten auf Grund der dauernd sich ändernden Pandemiesituation kaum möglich war, konnte größtenteils erst Anfang 2022 wieder hochgefahren werden. Innerhalb eines knappen halben Jahres mussten unsere Tester*innen alle Daten auf Vordermann bringen, Öffnungszeiten und Speisekarten überprüfen und sich auch noch mit neuen verschärften Kriterien für die Aufnahme in den Genussführer auseinandersetzen. Da blieb bisher keine Zeit zum Feiern.

Die Coronapandemie hat auch die Gastronomie in Deutschland insgesamt hart getroffen. Hat sich die Krise stark auf die Anzahl der vertretenen Lokale im Genussführer ausgewirkt?

Wir haben etwa 100 Lokale weniger im Buch als in der letzten Ausgabe. Dabei sind unsere Genussführerlokale im Großen und Ganzen gut durch die Krise gekommen und die Abgänge halten sich durchaus im bisherigen Rahmen der letzten 10 Jahre. Es hapert aber vor allem bei den Neuaufnahmen. Wegen Corona wurden viele Neugründungen vertagt und wegen des ständigen Auf und Ab konnte bei etlichen Gaststätten noch keine tragfähige Bewertung stattfinden.

Hier müssen wir ehrlich sein und uns eingestehen, dass durch Corona unser ehrenamtliches Konzept an seine Grenzen gestoßen ist. Unsere Tester*innen, die ihre Testessen ja aus eigener Tasche bezahlen müssen, hatten alle Hände voll zu tun, um die Bestandslokale zu überprüfen. Anders als in manch anderen Restaurantführern wird bei uns nämlich die regelmäßige Überprüfung ernst genommen und Lokale werden nicht einfach ungeprüft in die nächste Ausgabe weiter geschoben.

Die Gesamtsituation ändert sich aber gerade. Ich habe Nachricht aus vielen Testgruppen, dass mit der Abmilderung der Pandemie nun auch wieder mit frischem Schwung das Testen von neuen Lokalen angegangen wird. Zuwächse stehen also unmittelbar bevor. Leider kommen sie für die aktuelle Buchausgabe zu spät.

2 Ausgaben des Genussführers liegen auf einer Holzplatte. Links daneben ragt eine Pflanze ins Bild

Die Testgruppen probieren nicht nur gutes Essen, sondern stehen auch in engem Austausch mit den Wirten und Wirtinnen. Was bewegt die Branche in diesen schwierigen Zeiten?

Die Branche setzt vor allem auf Konsolidierung und sichere Konzepte. Man beobachtet einerseits eine Einengung des Speisenangebots, weg von à la carte, hin zu kleineren Speisekarten oder sogar zum ausschließlichen Angebot eines oder mehrerer fester Menüs.

Andererseits müssen die Gastronomen und Gastronominnen mit Preissteigerungen und Personalknappheit kämpfen. Hier zahlt sich eben aus, wenn man seinen Lieferant*innen schon immer einen fairen Preis bezahlt und seine Mitarbeiter*innen vernünftig entlohnt hat, wie das in den meisten unserer Genussführer-Lokale der Fall war. Obwohl wir auch da moderate Preisanpassungen beobachten, halten sich diese gegenüber der Gesamtbranche doch in engeren Grenzen.

Der Genussführer entwickelt sich ständig weiter. Über welche Neuerungen freuen Sie sich besonders in der aktuellen Ausgabe?

Um ehrlich zu sein: Man freut sich in diesen krisenhaften Zeiten ja schon darüber, dass der allergrößte Teil unserer Lokale überlebt hat. Die vergangenen Jahre waren auch für die Genussführer-Gastronom*innen keine leichte Zeit. Und noch immer sind wegen der Pandemie-Angst nicht alle Gäste zurückgekehrt.

Was uns aber besonders freut: Nachhaltige Lieferketten und lokale Netzwerke haben gehalten und wurden manchmal durch die Krisenbelastung sogar noch gestärkt. Viele Genussführer-Wirte und Wirtinnen haben die Zeit genutzt und nach neuen regionalen Bezugsquellen Ausschau gehalten. Es setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass kurze Transportwege, persönliche Beziehungen zu Landwirt*innen und Lebensmittelhandwerkern und deren faire Bezahlung die Krisenanfälligkeit der Gastronomie verringert.

Wie sieht es mit den Testkriterien aus? Was bleibt beim Alten, was ist neu?

Wir haben bei den Testkriterien nachjustiert und ein verstärktes Augenmerk auf bestimmte Küchenzutaten gerichtet, die nach unserer Ansicht nicht mehr zeitgemäß sind. So wollen wir Produkte aus Qualzucht wie Gänsestopfleber und Froschschenkel nicht mehr auf den Speisekarten sehen.

Auch besonders geschützte, weil vom Aussterben bedrohte Tierarten sollten so lange nicht gegessen werden, wie deren Bestand nicht wieder gesichert ist. Hier gab es vor allem Diskussionen über den Aal, der von allen mit dem Fischfang befassten internationalen Organisationen als höchst bedroht eingestuft wird.

Auch beim Fleisch ist uns der Einsatz intransparenter Produkte aus Übersee suspekt - nicht nur weil gute hiesige Alternativen einen Transport oft um den halben Erdball nicht rechtfertigen, sondern weil der zum Beispiel mit argentinischen Rindfleisch verbundenen Nimbus sich bei genauerem Hinsehen meist in Luft auflöst und dahinter wenig nachhaltige Massentierhaltung zum Vorschein kommt.

Seite "Testkriterien" aus dem Genussführer

Haben Sie bei den Testkriterien und der Auswahl der Lokale einen stärkeren Fokus auf vegetarische und vegane Angebote gelegt? Schließlich geht der Fleischkonsum in Deutschland laut Statistik der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung immer weiter zurück.

In der Tat ist dieser Trend vor allem in der großstädtischen Gastro-Szene zu beobachten. Zum Beispiel hat unsere Berliner Testgruppe einige großartige Lokale neu aufgenommen, in denen Fleisch nur eine absolute Nebenrolle spielt oder gar ausschließlich fleischlos gekocht wird.

Ich konnte mir kürzlich selbst ein Bild davon machen, als ich das Restaurant »Michelberger« besuchte. Dort präsentierte eine freundliche Bedienung die an diesem Abend verarbeiteten Gemüse am Tisch den Gästen auf einem Tablett. Das »Michelberger« unterhält nämlich eine eigene Farm im Spreewald, wo Obst und Gemüse für den Küchenchef herkommen und auch alte und seltene Sorten angebaut werden. Man wird nach Vorlieben und Unverträglichkeiten gefragt und dann bekommt man erklärt, welches Menü aus den dargebotenen Feldfrüchten heute Abend gezaubert wird. Transparenter und nachhaltiger geht es kaum.

Für Fleischfans wird wahlweise dennoch ein Fleischgericht vorrätig gehalten, das angesichts der dargebotenen vegetarischen Köstlichkeiten aber eher als Beilage daherkommt. Dies ist ganz im Sinne von Slow Food, denn wir wollen niemandem den Fleischgenuss verbieten, ihn jedoch dazu anregen, weniger und dafür qualitativ hochwertigere Produkte zu konsumieren.

Das in Berlin-Mitte gelegene Cookies Cream kocht gar ausschließlich mit Gemüse und bei vegetarischem Kaviar mit Eigelb, Kartoffelschmand und Nussbutter oder gebackener Aubergine mit Bohnen, Papadam und Zwiebelasche kommt gar kein Gedanke an Fleisch oder Fisch auf.

Da läuft einem ja direkt das Wasser im Mund zusammen! Wie wird man eigentlich Tester*in für Slow Food?

Man kann sich als Slow Food-Mitglied bei der örtlichen Testgruppe melden und sein Interesse bekunden. Man sollte schon einige Kenntnisse über die Kochkultur mitbringen. Wenn die zwischenmenschliche Chemie mit den Tester*innen stimmt, wird man einige Male als Gast zu Testessen mitgenommen und muss ein ausführliches Handbuch studieren, in dem unsere Regularien festgelegt sind. Dann kann es losgehen.

Dadurch, dass unsere Tester und Testerinnen nie alleine unterwegs sind, sondern immer als Gruppe testen, ist ein breiteres Bewertungsspektrum gewährleistet und Einzelmeinungen geben nie den entscheidenden Ausschlag. Dieses konsensuale Konzept hat sich bewährt und liefert regelmäßig tragfähige Ergebnisse.

Der Genussführer liegt aufgeschlagen auf einem Holztisch, man sieht die Seite "ABC der regionalen Spezialitäten"

Gibt es eine regionale Spezialität, die Sie – inspiriert vom neuen Genussführer – nun unbedingt probieren wollen?

Als in Süddeutschland Beheimateter hat man in der Regel die meisten Spezialitäten südlich der Mainlinie bereits einmal genossen. Umso neugieriger bin ich auf neue Gerichte aus dem Norden.

Wussten Sie zum Beispiel, dass die »Oldenburger Mockturtle« eine regionale Spezialität ist?  Aufgrund der über hundertjährigen Personalunion zwischen Großbritannien und Hannover wurde diese in England kreierte falsche Schildkrötensuppe aus Kalbs- oder Rindfleisch eine Spezialität Niedersachsens und ist nun über den Eintrag des »Restaurant zur Börse« an der Nordseeküste in den Genussführer gelangt. Auf meiner bevorstehenden Reise nach Norddeutschland werde ich einmal danach Ausschau halten und mir vielleicht auch einen Heidschnuckenbraten in der Lüneburger Heide nicht entgehen lassen.

Anregungen für diese und alle möglichen anderen kulinarischen Neuentdeckungen finden sich im stark erweiterten »ABC der regionalen Spezialitäten« im neuen Genussführer. Allein dieses Kapitel mit inzwischen über 170 Stichworten rechtfertigt bereits den Kauf des Buches.

 

Wieland Schnürch im Profil Wieland Schnürch ist Leiter des Herausgeberteams des »Slow Food Genussführers« und Autor für das Slow Food Magazin.

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